»Sie hat gerade eine Trauerwelle gekriegt.«
»Das heißt Dauerwelle, Herman. Ich möchte trotzdem mit ihr reden.«
»Ist in Ordnung, Dicker.«
Und dann kommt fast das Beste, wenn der Dicke mit einer weichen Bürste, die aus Lamaschwanzhaaren aus dem inneren Peru gefertigt ist, die Haare aus dem Nacken bürstet.
Herman bekommt von seinem Fünfer noch zwei Kronen3 zurück, steckt das Geld in die Tasche und geht hinaus. Der Wind weht kalt über den geraden Scheitel. Und plötzlich saust eine Kastanie auf seinen Schädel, sie bleibt fast stecken, er muß sie losreißen und spürt weiches Haar an seinem Gesicht vorbeiwehen. Da kann er gleich den Metallkamm nehmen, stellt sich vor den dreigeteilten Spiegel im Fenster und zieht den Scheitel wieder an der richtigen Stelle. In dem Moment erscheint das Gesicht des Dicken, er schaut hinter dem Spiegel hervor zu Herman hinaus, und der Dicke hat so eine traurige Augenfarbe, fast so traurig wie die Dame mit den Ameisen. Er braucht bestimmt eine Aufmunterung, also hält Herman den Kamm hoch, damit der Dicke ihn aus der Nähe ansehen kann, denn er ist auch ziemlich neugierig. Der Dicke versucht zu lächeln, aber es glückt ihm nicht so recht. Herman steckt sich den Kamm in die Hosentasche und rennt zur Bygdöy-Allee.
In Jacobsens Kolonialwarenladen steht Mutter hinter dem Tresen, sie sieht ganz anders aus als zu Hause, trägt eine weiße Schürze, und über ihr Haar hat sie ein Netz gestülpt, das ist wie ein Spinngewebe. An der Kasse sitzt Jacobsen junior selbst, von dem alle sagen, er sähe aus wie ein Filmstar aus Amerika. Er hat dunkles, nach hinten gekämmtes Haar und ein Grübchen im Kinn, wenn er lächelt, aber er lächelt fast nie, nur wenn es um größere Summen geht. Und er hat massenhaft Kugelschreiber in seiner Brusttasche.
Herman muß erst mal zur Kaffeemaschine; er schließt die Augen, während er soviel Kaffeeduft wie möglich in sich aufsaugt. Wenn er sich an seine Träume erinnern könnte, würden sie sicher so riechen.
Mutter steht neben ihm und hat einen Bleistift hinterm Ohr.
»Jetzt sehen deine Haare gut aus«, sagt sie.
»Dank, wem Dank gebührt.«
Jacobsen tippt eine Summe in die Kasse, räuspert sich laut und blickt sich um. Er muß mindestens ein Kilo Hackfleisch verkauft haben oder vielleicht ein Kotelett. Wenn jemand nur Knäckebrot und Salz fürs Essen kauft, räuspert er sich überhaupt nicht. Und erst recht nicht beim Auszahlen von Flaschenpfand, dann verläßt er das Geschäft und geht ins Hinterzimmer, wo es ein Radio und ausländische Zeitungen gibt.
»Seid ihr heute wieder überfallen worden?« fragt Herman.
»Heute gab es nur einen Hund, der auf die Kohlköpfe gepinkelt hat. Wir müssen sie zum halben Preis verkaufen.«
»Was essen wir zum Mittag?«
»Pischfudding und Tarkoffeln.«
»Mit Schokoladensoße?«
»Natürlich! – Du hast Großvater nicht vergessen?«
»Großvater wird nicht vergessen.«
Mutter stellt einen Pappkarton auf den Tresen, und Herman weiß ganz genau, was drin ist: sechs grüne Äpfel, acht Karotten, fünf Fischfrikadellen, eine Flasche Milch und zwei Tafeln Schokolade. Großvater ist frisch wie ein Fisch.
»Der Dicke will mit dir reden.«
»Mit mir reden? Warum das denn?«
»Er will deine Bauernwelle schneiden.«
»Jetzt erzählst du wieder Quatsch, Herman.«
»Ich red’ keinen Quatsch. Der Dicke will mit dir reden.«
Mutter drückt ihm den Karton in die Arme und schiebt ihn zur Tür. Genau in dem Augenblick kommt Pfand herein, und Jacobsen junior steht auf und verschwindet im Hinterzimmer. Pfand hat zwei Netze voller leerer Flaschen, und er zittert wie ein Spielmannszug drei Wochen vor dem Nationalfeiertag.
»Haben Sie auch Ameisen in den Beinen?« fragt Herman.
Die Knie von Pfand versagen sofort, er sinkt zu Boden und bleibt in einem Berg von Flaschen liegen. Es ist unglaublich, wie merkwürdig die Leute sich heute benehmen, denkt Herman und macht, daß er rauskommt. Er kann hören, wie Pfand drinnen ruft: »Ich hab’ keine Ameisen in den Beinen! Ich hab’ keine Ameisen in den Beinen! Verschwinde! Verschwinde!«
Und Mutters Stimme: »Natürlich nicht, Herr Frantsén. Jetzt zählen wir die Flaschen und rechnen aus, wieviel es heute macht.«
Zum Glück ist es nicht sehr weit zu Großvater, über die Straßenbahnschienen, an der Würstchenbude vorbei und knapp bis zur Eisenbahn hinunter. Großvater wohnt im dritten Stock, und bis dahin sind viele Treppen zu steigen, wenn man fast keine Beine hat. Herman hat sich fest vorgenommen, einen Fahrstuhl für Großvater zu kaufen, wenn er eines Tages genug Geld hat.
Im obersten Stockwerk steht die Tür immer offen, und Herman geht hinein. Zuerst gibt es da einen schmalen Flur, in dem Fotos an der Wand hängen. Auf einem der Bilder sind Hermans Eltern in einem Boot zu sehen, das fast kentert. Damals waren sie viel jünger, und Herman weiß nicht so recht, ob ihm das Bild gefällt. Ein anderes Foto ist von ihm selbst. Er sitzt mitten in einem riesigen, ekligen Schwimmreifen und schreit, und sein Kopf ist kahl wie ein blauer Luftballon. Er kann sich nicht daran erinnern, daß er einmal so ausgesehen hat, es muß sich um eine Verwechslung handeln.
Im nächsten Zimmer liegt Großvater in einem Himmelbett mit rotem Himmel. Dort liegt er, seit Großmutter starb. Sie starb, bevor Herman geboren wurde. Großvaters Beine sind dünn wie Bleistifte, und sie haben bereits ihre letzten Schritte getan, wie Mutter zu sagen pflegt. Aber er liegt jedenfalls ganz gut da. Es riecht nicht so fein bei Großvater. Herman öffnet das Fenster, dann legt er die Lebensmittel auf den Nachttisch, der auch ein Tagtisch ist. Das erste, was Großvater macht, ist Milch trinken, und zwar direkt aus der Flasche. Herman geht ins Badezimmer und leert den Nachttopf aus. Als er zurückkommt, hat Großvater bereits vier Fischfrikadellen aufgegessen und wirkt sehr zufrieden. Und in der Ecke tickt die alte Standuhr wie vorher.
»Haben wir heute Zeit, uns miteinander zu unterhalten?« flüstert Großvater und legt seine Hand auf Hermans Arm.
»Ich habe einen Braten im Ofen.«
Das sagt Mutter immer, wenn Händler oder Mormonen an der Wohnungstür sind. Großvater kichert lange. So ein Himmelbett ist ganz prima, vielleicht erinnert man sich darin an all seine Träume.
»Was hast du heute gemacht, Herman?«
»Ich habe heute geschwindelt. Ein paarmal.«
»Das war nicht so gut. Aber morgen sagst du die Wahrheit.«
»Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin.«
»Komm nicht mit Entschuldigungen.«
»Entschuldigung.«
»Warum hast du geschwindelt?«
»Glenn, Karsten und Björnar haben mich gezwungen. Sie haben mir ein Messer ins Herz gesteckt, so daß ich tot auf dem Boden lag.«
»Das ändert die Sache«, sagt Großvater. »Ich erinnere mich, daß ich auch einmal gelogen habe. Das war während des Krieges in der Türkei. Sie haben mir acht Fingernägel gezogen, und da habe ich geredet. Das gilt nicht.«
Großvater ist völlig kahl, abgesehen von drei Haaren an jedem Ohr. Damit ist nicht mehr viel Staat zu machen. Sie sind auch schon kurz vorm Ausfallen. Die Glatze ist holprig wie ein Granitfels und hat fast die gleiche Farbe. Aber man kann Großvaters Gedanken nicht sehen, und das freut Herman. Er überlegt oft, ob es unter seinem Haar auch so aussieht. Doch es ist gar nicht gut, das zu wissen.
Großvater ist wahrscheinlich der älteste Mensch auf der Welt. Es ist eigentlich merkwürdig, daß sowohl Neugeborene als auch Alte fast keine Haare haben.
»Hab’ ich dir erzählt, wie ich mal von der Leiter gefallen bin, in jeder Hand einen Farbeimer?«
»Das