»Und du hast nicht vergessen, daß du Großvater besuchen sollst?«
Herman schüttelt den Kopf, daß die Locken in alle Richtungen fliegen und ein paar Haare auf den Tisch herabrieseln.
»Man ist nicht so vergeßlich«, sagt er.
Mutter bürstet die Haare weg und schaut Herman wieder an.
»Ich glaube fast, daß du bald ein Haarnetz tragen mußt!« lacht sie.
Herman lacht auch laut, aber nicht so laut wie Mutter, das kann er nicht, während Vater den Tisch abräumt und alles auf einmal hinausträgt, ohne auch nur einen Zahnstocher zu verlieren.
Wenn Herman sagt, daß er Hausaufgaben machen muß, kommt er um den Abwasch herum. Darum sagt er das meistens nach dem Mittagessen. Er geht in sein Zimmer, holt sein Arbeitsheft heraus und schreibt: Der Frogner-Park von Gustav Vigeland. 58 Figuren auf der Brücke. 4 Echsen aus Granit. Der Rosengarten. Das Labyrinth. Das Monolithenplateau. 8 schmiedeeiserne Tore. Der Westplatz. Das Lebensrad. Er grübelt lange über den letzten Satz nach. Er ist etwas unschlüssig, schreibt ihn aber doch auf: Und man war sich einig, daß es ein schöner Tag gewesen war. Danach bleibt er sitzen und schaut aus dem Fenster. Die Dunkelheit ist schon da. Es ist merkwürdig, daß man die Dunkelheit sehen kann, denkt Herman. Aber sein Globus ist nicht dunkel, er leuchtet, er steht auf dem Fensterbrett und wird nie ausgeknipst. Er gibt dem Globus einen Schubs, schließt die Augen und hält ihn mit dem Zeigefinger an. Adapazari! Er radiert den letzten Satz im Heft aus und schreibt statt dessen: Wenn ich erwachsen bin, werde ich Kranführer oder reise nach Adapazari!
Bevor er ins Bett geht, hören sie sich zusammen das Wunschkonzert an. Aber heute abend hat keiner von ihnen Geburtstag, darum erhalten sie keine Grüße. Herman findet, daß die Kirchenlieder traurig klingen, und er hofft, daß niemand darauf kommen wird, für ihn das Kirchenlied »Die große weiße Herde« zu spielen, wenn er dran ist. Während Eddie Calvert für einen Soldaten Trompete spielt, geht Vater ins Bad, und sie wissen, daß er schon wieder Hunger hat.
»Zeit, die Segel zu setzen«, sagt Mutter und schaut von ihren Patience-Karten auf. »Und dazu muß der Kapitän an Bord sein, nicht wahr?«
»Land ahoi!« sagt Herman und marschiert ins Bad, wo Vater mit bloßem Oberkörper steht und sich rasiert. Sein Bart kommt dreimal am Tag zum Vorschein, sonntags sogar fünfmal. Herman klettert auf Vaters Rücken, aber als er die Schultern erreicht und sie beide im Spiegel sehen kann, wird ihm wieder schwindlig, und er rutscht langsam hinunter. Vater lacht und steckt den Kopf unter den Wasserhahn. Herman knickt die Zahnpastatube achtmal um, drückt, so fest er kann, und ein kleiner weißer Klumpen kommt heraus. Es ist eigentlich komisch, daß Zahnpastatuben niemals leer werden.
»Da sagen wir dann gute Nacht«, sagt Herman.
»Gute Nacht«, gurgelt Vater.
Nachdem Herman sich hingelegt hat, kommt Mutter und löscht das Licht, aber der Globus bleibt an. Dann setzt sie sich ans Bett und streicht Herman durchs Haar, zupft etwas daran, und das mag Herman sehr. Das macht sie immer, wenn seine Haare zu lang werden und er zum Friseur muß. Er beschließt, nicht zuviel abschneiden zu lassen, so muß er bald wieder zum Friseur, und Mutter wird ihm durchs Haar streichen, zupfen und laut lachen. Sie schließt leise die Tür, und Herman denkt plötzlich an Ruby, an all ihre roten Haare; es ist nicht völlig unmöglich, daß dort Vögel drin sind – vielleicht ein Dompfaff oder wenigstens ein Kolibri. Und er muß an das Blatt denken, das er verschluckt hat. Das war mit das Merkwürdigste, was er bisher getan hat, er wird es sich gut überlegen, bevor er wieder etwas Ähnliches tut. Dann hört er draußen den Wind, der singt heute abend eine sonderbare Melodie, schleicht sich mit kaputtem Akkordeon und verstopften Trompeten um die Ecken. Aber das Gesicht des Windes hat er nie gesehen. Bald darauf hört er die Eltern im Wohnzimmer, sie haben glücklicherweise Gesichter. Herman denkt auch an die Zeit und daß sie arm dran ist – alle wollen sie haben, und manchmal schlagen sie sie auch noch tot. Dann träumt er manches, kann es sich aber nicht merken. Das ist eigentlich ein wenig ärgerlich.
Kapitel 3
Herman hat ausgerechnet, daß es achthundertzweiundvierzig Schritte bis zur Schule sind. Aber nur, wenn er allein geht, nicht mit geschlossenen Augen und ohne Südwester.
Wenn er mit Vater bis zum Drammensweg geht, braucht er nur achthundertsechzehn Schritte, denn Vater hat außergewöhnlich lange Beine, und Herman muß so weit wie möglich ausholen, um Schritt zu halten.
Mutter steht meistens am Fenster und winkt ihnen mit beiden Armen hinterher, denn Jacobsens Kolonialwaren öffnen nicht vor neun. Und wenn sie schon ein Stück die Straße hinaufgelaufen sind, hören sie sie rufen, und dann wirft sie das Schulbrot hinaus, das Herman immer vergißt. Und Hermans Mutter ist gut im Werfen; einmal hat sie ihm das Schulbrot nachgeworfen, als er nicht weniger als einhundertachtunddreißig Schritte weg war. Herman mußte nur seinen Ranzen öffnen, schon landeten zwei Brote mit Ziegenkäse und zwei mit Cervelatwurst genau zwischen Lineal und Naturkundebuch.
An der Ecke bei Jacobsen halten sie an; Vater muß abbiegen, zur Baustelle in Vika. Herman muß geradeaus weiter. Vater beugt sich über ihn, sein Atem riecht nach Zigaretten und Kaffee.
»Einmal kommst du aber mit auf den Kran«, sagt er.
Herman guckt woanders hin.
»Mmh ja, vielleicht kann ich ja von dort oben bis Amerika sehen?«
»Amerika! Noch weiter! Ich kann so weit gucken, daß ich meinen eigenen Rücken sehen kann!«
»Das ist was«, sagt Herman.
»Das stimmt nicht«, sagt Vater leise. »Bis zur Nesodden-Halbinsel kann ich sehen. Man soll nicht lügen und sich Sachen ausdenken, nicht wahr?«
»Am besten nicht.«
Vater richtet sich plötzlich auf, gräbt in seiner Hosentasche und zieht den Metallkamm hervor.
»Das ist jetzt deiner«, sagt er feierlich. »Paß auf ihn auf.«
Herman nimmt vorsichtig den Kamm entgegen, er schimmert in der Hand, ist schwer und gut zu halten.
»Aber womit willst du dich kämmen?« fragt er.
»Ich stecke meinen Kopf einfach unter den Wasserhahn, und der Wind ist mein Kamm«, sagt Vater, und dann marschiert er mit Riesenschritten los und verschwindet hinter einem Schwarm Tauben, der plötzlich auffliegt.
Vor dem Roten Kreuz steht ein Rettungswagen mit riesigen Spiegeln auf jeder Seite. Herman hält sein Gesicht vor einen der Spiegel und betrachtet es, hier sieht es wieder ganz komisch aus, so, als wäre es nur eine einzige riesige Nase. Aber die ähnelt jedenfalls nicht mehr einem Tannenzapfen. Er fährt sich mit dem Kamm durch das Haar, der Kamm schrammt auf der Kopfhaut und tut ihm ziemlich weh, doch das soll es ja vielleicht, vielleicht muß es weh tun, wenn man einen eleganten Scheitel haben will. Dann, mit einemmal, entdeckt Herman, daß jemand im Rettungswagen liegt: ein uralter Mann mit gläsernen Augen, die überhaupt nicht blinzeln, der Mund ist nur ein offenes Loch ohne Zähne, und die Haut ist blau und stramm wie das Trikot eines Schlittschuhläufers. Herman zuckt zusammen und läuft die Straße ein Stück hinauf, er muß an Großvater in seinem Himmelbett denken. Und jetzt ist er ganz und gar aus dem Zähltakt geraten, da kann er genausogut gleich mit geschlossenen Augen gehen. Sein Rekord sind sechsundzwanzig Schritte, aber dieser Rekord wurde letzten Sommer mitten auf einem Feld aufgestellt. Er schließt die Augen und zählt leise für sich. Acht. Das ging gut. Fünfzehn. Das geht immer noch gut. Doch als er bei zweiundzwanzig ankommt, ist jäh Schluß. Er trifft auf etwas Weiches, das schreit. Herman öffnet die Augen und starrt direkt in die Augen eines Fuchses. Weiter oben ist da etwas mit blauem Haar, das redet.
»Paß doch auf, du Bengel!«
Herman sieht in die entgegengesetzte Richtung und tastet mit den Händen um sich.
»Ich bin kein Bengel. Ich bin blind und habe mich verlaufen.«
Herman wackelt auf die Straße, beide Arme vor sich hingestreckt. Drei Autos machen eine Vollbremsung, und ein