Die verbotene Frucht. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445587
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kleinen Marseillerinnen feuerten sie zuerst durch ihre Rufe an, dann riss es sie aber doch dazu hin, die Jagd des Artistenpaares selbst mitzumachen.

      Und daran anschliessend entwickelte sich trotz dem Rollen und Stampfen der „Holstein“, trotz Kälte, Wind und überholender See, ein so lustiges Spiel zwischen diesen Stockfremden, die den verschiedensten Nationen, den verschiedensten Klassen angehörten, dass Jutta sich und den Gatten und seine gesellschaftlichen Anschauungen ganz und gar vergass.

      Sie tat nichts halb, sie widmete sich jeder Sache, die sie fesselte, gleich mit Leib und Seele. In der Pension zu Koblenz war sie die beste Tennisspielerin gewesen, im Golfspiel hatte sie einmal kurz vor ihrer Verlobung den Sieg über eine berühmte englische Schlägerin davongetragen.

      Die Mandarinen flogen in dem unregelmässigen Siebeneck auf die kurzen hellen Anrufe von Hand zu Hand. Blitzgeschwind und ohne Verabredung hatte sich etwas wie eine Spielregel zwischen ihnen entwickelt. Es warfen immer zwei übers Kreuz, das ging so reihum, und der siebente hatte indes einen Fangball zu tun. Wenn einer einen Wurf verfehlte, so rannten die andern, bis er wieder im Besitz seines Geschosses war, im Geschwindschritt von Platz zu Platz, was bei den schwankenden Schiffsbewegungen ein Kunststück war. Man hörte Rufe in allen Sprachen, helles Lachen — das Jauchzen der Kinder.

      Die Ausgelassenheit lockte bald Zuschauer an. Oben auf dem Promenadendeck waren schon mehrere der unermüdlichen Spaziergänger stehengeblieben und musterten die Gruppe.

      Jutta bereitete es Vergnügen, ihren jeweiligen Mitspieler zu necken: wenn der Kapellmeister, der sich rasch die Leitung des Spiels angeeignet hatte, sein „ecco!“ oder „eccolo!“ hinausschmetterte, dann zögerte sie noch mit ihrem Wurf, so dass er vergeblich zufasste und komisch verdutzt den Mund aufriss, oder sie warf ihren Ball so hoch sie konnte, so dass alles durcheinander lief, um ihn zu fangen. Zwei Mandarinen waren schon — unter einem allgemeinen Schreckensruf — über Bord gegangen. Der Schiffsarzt, der ungeschickteste der Spieler, war der Übeltäter. Augustine, deren Wangen vor freudiger Aufregung glühten, holte eilends neuen Vorrat aus der Kajüte. Am geschicktesten fing Juttas kühne Würfe immer der „Ägypter“ auf. Er war ein ebenso guter Ballspieler wie sie. Ein paarmal tauchte Juttas Blick mitten im Eifer des Spiels mit einer Art verwunderter Neugier in den seinen. Und dabei hatte sie die Empfindung: was er doch für ein hübsches, offenes Gesicht besass — und was für helle, lustige, liebe Augen!

      In jähem Schreck brach sie indessen plötzlich das Spiel ab.

      Unter den Zuschauern oben hatte sie Herrn von Stangenberg bemerkt.

      „Au revoir, mes petites, au revoir!“ rief sie den beiden Kindern noch lebhaft zu. In der nächsten Sekunde hatte sie dann schon die eiserne, leiterähnliche Treppe, die zum Promenadendeck emporführte, erklommen. Sie eilte auf Stangenberg zu, hängte burschikos bei ihm ein und zog ihn mit sich fort, atemlos, immer noch lachend.

      Aber das Lachen klang jetzt ein bisschen erkünstelt.

      „Ich traute erst meinen Augen nicht ... was war denn das, Sie verwegene kleine Frau?“

      Sie schmiegte sich an ihn wie ein Backfisch an die Erzieherin: als ob es gälte, den Erlass einer Strafe abzuschmeicheln.

      „Nicht ausplaudern, bitte, bitte.“

      Allerliebst war sie in ihrer Kopflosigkeit, ihrer Bestürzung. Und es lag trotz aller Angst auch jetzt ein schalkhafter Zug in ihrem Wesen.

      „Nu sagen Sie bloss: da war doch Succo bei, der Referendar?“

      „Bscht —“ Sie hielt ihm die Rechte vor den Mund und klammerte sich mit der Linken noch fester an ihn. „Wir machten bloss mit den Kindern ein bisschen Unsinn. Das sind die kleinen Marseillerinnen — und überhaupt: er weiss doch gar nicht, wer ich bin!“

      „Meine Gnädigste, na, hören Sie ...“

      Sie entzog ihm hastig den Arm und blieb stehen. „Wenn ich durchaus eine Strafpredigt haben soll, dann hol’ ich sie mir lieber von meinem Mann!“

      Man konnte nicht wissen, ob sie das noch im Scherz oder ob sie’s im Ernst sagte. „Die würde dann jedenfalls schärfer ausfallen, meine Gnädigste, als mir’s zusteht.“

      „Ist es Ihnen recht, wenn wir jetzt unsern Tee nehmen? — Gut. Also im Damensalon.“ Sie lachte. „Nein, besser im Rauchzimmer, wo Sie behaglich schmauchen dürfen. Um Sie einzuwickeln. Bin ich nicht nett?“

      Sie traten in den mollig erwärmten Raum ein. Hauptsächlich Herren waren zugegen. Geraucht wurde aber nur wenig. Die Luft war gut. Jutta machte flott die Bestellung und suchte Teegebäck aus, das sie vom Barkeeper einwickeln liess. Ein Steward musste das Päckchen sofort den kleinen Marseillerinnen nach der dritten Klasse hinüberbringen. An dem einzigen noch freien Tisch nahm sie Platz; Stangenberg liess sich ihr gegenüber nieder. Sie hatte noch ganz heisse Wangen vom Spiel, vom Wind.

      „Sie haben mir noch immer nicht meine Frage beantwortet, verehrter Freund“, begann sie nun übermütig.

      „Fishing for compliments! — Nein, was sind Sie für eine gefährliche kleine Frau! — Stürzen sich da in die tollsten Abenteuer ... Ja, lachen Sie nur! ... Und hinterdrein reizen Sie einen — das heisst, nein, Sie sind so reizend — dass man Ihnen auf Tod und Leben den Hof machen möchte ...“

      „Was Sie doch hoffentlich nicht tun werden?“ fragte sie mit einem drolligen Augenaufschlag.

      „Jawohl, gerade. Und Sie wissen’s, sehen einen mit Grazie in der Gefahr versinken ...“

      „Gefahr? Für mich nicht, ich schwör’s Ihnen.“

      „Aber für mich.“

      „Wieso?“

      „Man ist dann Mitschuldiger. Und — das wollen Sie eben.“

      Der Tee kam, und sie bediente ihn. „Ich merke mir alles, was Sie sagen. Und wenn mein Mann nicht mehr seekrank ist, erstatte ich ihm Bericht.“

      „Sie wären wahrhaftig imstande. — Wollen wir nicht lieber einen Vergleich schliessen?“

      „Nun wollen Sie mich mitschuldig machen.“ Sie lachte wieder. „Ein bisschen Milch gefällig?“

      „Ja. Nein. Ja. Danke. — Ein paar Augen haben Sie, ein paar Augen —“

      „Für einen ehemaligen Rittmeister sind Sie seltsam leicht in die Irre zu führen.“

      „In die Irre. Das ist das rechte Wort. Mit Ihren kleinen Händen reichen Sie einem Tee. Tee mit Milch. Und mit den Augen: Champagner.“

      „Wie gesagt, ich merke mir alles.“

      „Bitte.“

      „Das sagen Sie so, wie die tollen Kerle auf der Bühne etwa: ‚Racker!‘“

      „Es sollte aber ‚Sphinx‘ heissen.“

      „Ich finde, wir unterhalten uns furchtbar geistreich. Das halten wir bis Alexandrien gar nicht aus. Wenn Sie Ihren Tee getrunken haben, dürfen Sie mich noch auf die Kommandobrücke begleiten. Dann Handkuss und Erholungspause bis zum Essen. Ich muss auch wieder mal nach meinem Mann sehen.“

      „Aha, das Gewissen schlägt.“

      „Vielleicht.“

      Jutta traf den „Ägypter“ nach dem Diner noch mehrmals auf dem Promenadendeck. Er grüsste nicht, sah sie auch kaum an. Sie sagte sich: ein richtiger Landsmann würde nach der Begegnung bei den Kindern drüben doch sicher die Gelegenheit wahrgenommen haben, sich vorzustellen. Ihm schien es gar nicht einzufallen, sich ihr zu nähern. War es nur die kühlere, zurückhaltendere Reisegewandtheit — oder hatte er inzwischen vielleicht in Erfahrung gebracht, wer sie war?

      Noch nie hatte sie vor ihrem Gatten ein Geheimnis gehabt. Sie war ihm gegenüber selbst in den kleinsten Kleinigkeiten und Harmlosigkeiten offen. Hätte sie so wie sonst mit ihm verkehren können, so wäre ihr’s ganz unmöglich gewesen, ihm ihre Begegnung mit dem Vetter auch nur ein paar Stunden lang zu verschweigen. Aber Gustav lag ohne Teilnahme da. Sein Magen hatte restlos alles