Niemand hatte daran gedacht zu fragen, wohin man ihn bringen würde, und der Pförtner telefonierte eine weitere Stunde herum, ehe sie ein Taxi zum Ospedale di Santo Spirito ordern konnte. Sie war begeistert, als sie dort von einem tschechischen Arzt, der ebenfalls kurz zuvor emigriert war, empfangen wurde, doch gleichzeitig erschrak sie, als dieser den Verdacht auf eine ernsthafte Erkrankung der Lungen äußerte. Er war glücklicherweise auch einer der wenigen Verehrer von Viktors anspruchsvoller Poesie, doch er hatte noch nicht das Recht, Ausnahmen zu machen, er legte ihn also in einem großen Saal für zwölf Männer wenigstens in die Ecke, wo er so wenig wie möglich gestört werden konnte. Er ließ sie dort auch eine Weile bei ihm sitzen, doch Viktor schlief nach den Tabletten, die man ihm gegeben hatte, somit konnte sie ihn auch nicht mit der Nachricht erfreuen, welchen Erfolg sie gehabt hatte, und ihm auch nicht für die Rosen danken. Zu Hause entdeckte sie auf dem Strauß ein Kärtchen mit dem Namen Vittorio Mortadini, der ihr überhaupt nichts sagte. Am anderen Tag ließ man sie nicht zu Viktor und begründete dies damit, dass eine vertiefende Untersuchung laufe. Der nächste Morgen versetzte ihr gleich zwei Schläge auf einmal. Der tschechische Arzt bestätigte ihr zunächst, dass es sich um Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium handelte, was eine anstrengende und teure Behandlung erfordere, und beschuldigte sie gleich darauf, dass sie die Ursache für seine Flucht aus der Heimat gewesen sei. »Nach Ihrem flammenden Fernsehauftritt habe ich im Prager Militärkrankenhaus einen Protest gegen den Einmarsch der Armeen organisiert, und einen Monat später entzog man mir den Chefarztposten und kündigte mir! Meine Frau hat mir Szenen gemacht, dass man mich noch verhaften und sie mit den beiden Mädchen allein zurückbleiben würde. Also mache ich jetzt ihretwegen den Hampelmann für Nachtdienste, während meine Kollegen in Prag unterschrieben haben, ich hätte sie angestiftet, und sie arbeiten fröhlich weiter!«
Sie torkelte direkt zum Theater, wo sie an der Ballettstange und unter der Dusche wieder so zu sich kam, dass sie am Abend bei der zweiten Aufführung wieder brillierte. In dem neuen Strauß weißer Rosen stak ein kurzer Brief, der sie wegen seiner entwaffnenden Ungewöhnlichkeit rührte: »Sehr geehrte Frau, weil ich nicht kennen Tschechisch, ich nicht glücklich nicht kann erklären Bezauberung und Betörung Ihre Kunst anders als zu Hilfe italienischtschechisch Wörterbuch. Große Bitte für persönlich Treffen! Mit Küssen Hand begeistert Vittorio Mortadini, Hotel Bristol.« In der Nacht schrieb sie ihm auf Englisch: »... für den Blumenstrauß und die so schön formulierte Einladung danke ich herzlich, doch ich verbringe meine sämtliche Freizeit im Krankenhaus S. Spirito bei meinem schwerkranken Mann, einem der besten tschechischen Dichter, der meinetwegen emigriert ist ...« Viktor verschwieg sie dies vorerst, sie wollte nicht, dass es ihm leidtat, dass sie ähnlich wie er selbst jemand anderes grüßte.
Es folgten eine weitere Reprise und ein weiterer Blumenstrauß, nun schon ohne Zusatz, doch mit einem Nachspiel von weitreichender Bedeutung. Am nächsten Tag fiel sie vor Schreck fast in Ohnmacht, als an dem gewohnten Ort im Krankenzimmer ein fremder alter Mann lag, doch da eilte schon der Professor selbst herbei und beruhigte sie, Viktor sei in ein eigenes Zimmer verlegt worden. Auf dem Weg zu ihm versicherte er ihr, er habe ihm die besten Medikamente und auch eine solche Behandlung verschrieben, wie er es ihrem gemeinsamen Freund, den er unheimlich achte, versprochen habe, denn »Senator Mortadini ist einer der tapfersten Italiener, den weder die italienische, noch die deutsche Haft brechen konnten ...« Vittorio wagte zum ersten Mal, sie persönlich zu grüßen, als er ihr auf Viktors Begräbnis kondolierte, und erinnerte an eine Geschichte, die ein Jahr her war und dessen Geheimnis sie erst jetzt verstand: noch vor ihr hatte er Viktor kennengelernt, den er kurz zuvor im Fernsehen als großen Dichter aus der Tschechoslowakei gesehen hatte, das war in einem Mailänder Restaurant gewesen, wo er sie nicht hatte belästigen wollen, doch wo er sich erlaubt hatte, anonym für sie zu bezahlen ...
Und nun kamen die beiden zusammen bis nach Olmütz!
»Julia«, sagte Viktor, »Vittorio und ich haben uns geeinigt, dass es keinen Sinn hat, aufeinander eifersüchtig zu sein, wo du uns doch beide gleich liebst, dein dritter Mann, Giorgio, wird tagsüber mit dir leben und wir beiden nachts!« Beruhigt und glücklich schlief sie wieder ein, und als sie die Augen öffnete, bot ihr das Gedächtnis einen längst verschütteten Vers an: »In Böhmen war ein schöner Tag, der ringsum voller Rosen lag.« Der neue Morgen hatte die graue Decke der Inversionswetterlage vom Vortag abgeworfen und bot ihr ein Bild ihrer Heimatstadt in den faszinierendsten Farben. Die Wut, mit der sie eingeschlafen war, erwachte nicht von Neuem, und sie vergegenwärtigte sich: sie hatte den jungen Mann nicht gemietet, damit er auf ihren Gräbern weinte, sondern als Tänzer, der Format bewiesen hatte. Sie entschloss sich, ihn auch weiterhin so zu nehmen, ihm das schändliche Nichtwissen nicht vorzuhalten und ihm, wenn er dies wollte, geduldig zu erklären, was er vielleicht noch zu fassen in der Lage war.
Er kannte sich zu gut, und so stellte er die Weckfunktion im Handy ein, eher er sich völlig betrank. Trinken konnte er zum Glück, somit wusste er, dass er funktionieren würde. Trotzdem genehmigte er sich eine schottische Dusche, bis er sich durch die heißen und kalten Wasserstrahlen vollständig wiederhergestellt hatte. Er erinnerte sich matt daran, dass er sich in der Nacht den dreien in Prag gegenüber zu irgendetwas verpflichtet hatte, doch der verletzte Stolz war immer noch stärker. Vollständig gepackt und nach einem guten Frühstück – dieses hatte er ausgiebig genossen! – kam er zur Rezeption in der Vorfreude, sich von der Alten zu trennen. Doch dort wartete ihr Muskelmann, der ihm den Koffer mit seinen Privatutensilien und den mit dem Zurückzugebenden abnahm und ihm in der Tür den Vortritt ließ. Die Alte saß schon im Wagen und lächelte ihm entgegen, so als danke sie ihm für eine unvergessliche Nacht.
Beim Frühstück in ihrem Apartment hatte sie noch einmal die Karte studiert, auf der sie bereits in Rom die Stelle gefunden hatte. Sie rechnete damit, dass sich alles im Laufe dieser halben Ewigkeit bis zur Unkenntlichkeit verändert haben konnte, also versuchte sie, die Landschaft nach dem Flusslauf zu bestimmen, es hatte sich ihr ins Gedächtnis gegraben, dass dies der erste große Mäander oberhalb der Stadt war. Sie bat Peppino, langsam zu fahren, somit winkten ihnen ein paar Frauen herzlich zu in der Annahme, in dem Luxusmietwagen ein jungvermähltes Paar zu grüßen. Olmütz war seit ihren Zeiten so gewachsen, dass sie fast befürchtete, die Regulierung des Flusses könne auch diese Ecke verschlungen haben, doch direkt vor dem Mäander schien die Stadt wie abgeschnitten, dann schloss sich nur noch Auwald an. Bald tauchte eine Wiese auf, die steil zu einer kleinen Lagune hin abfiel. So als würden sie direkt in die Vergangenheit hineinfahren, erblickte sie ein kleines bezopftes Mädchen, das auf der Welt kein ihr nahestehendes Geschöpf mehr hatte, doch das, was ihm gerade von allem am meisten fehlte, das war ein Grab.
Sie erschien ihm wie ausgewechselt. Wenngleich sie vollauf damit beschäftigt war, irgendein Ziel zu suchen, war sie nett, fast herzlich, sie scherzte, er habe sich am Abend vorher offensichtlich den Ruf eines Parkettlöwen ertanzt, weshalb sich alle Lokalhyänen auf ihn gestürzt hätten. Seinen Dank lehnte sie mit der schmeichelhaften Begründung ab, sie könne es sich nicht erlauben, ihr einen Tänzer zum Krüppel zu schlagen, der es mit den Profis aus Rom aufnehmen konnte. Dann aber schaute sie mehr und mehr auf den Weg, und er störte sie nicht, die nächtliche