So als habe die Verkleidung nie stattgefunden, schilderte sie ihm detailliert den Ablauf von Milongas in Rom, »das ist fast so, wie wenn man in die Oper geht, jeder will das genießen wie einen kleinen Festtag.«
Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, und ihn begann zu stören, dass sie ihn behandelte, als würde ihn das alles gar nicht betreffen, so als müsse er gar nichts wissen, als habe sie nur seine Beine und seine Arme gemietet und der Rest ihres Besitzers würde sie überhaupt nicht interessieren. Bestärkt von seiner morgendlichen Entscheidung, in sein früheres Leben zurückzukehren, dachte er beleidigt, so wird niemand mit mir umspringen! Er musste jedoch ausharren, bis der italienisch sprechende Kellner, der auch nur mit ihr sprach, als sei sie allein da, die Flasche echten Champagner geöffnet hatte. Er wartete, bis sie am Korken gerochen hatte, den er ihr auf einem goldenen Untersetzer unter die Nase hielt, und als sie nickte, schenkte er ihr und anschließend auch ihm ein, Leo meinte, in seinem kühlen Ausdruck Verachtung wahrzunehmen. Nachdem sich der Ober entfernt hatte, forderte sie ihn auf, mit ihr anzustoßen.
»Also, cin-cin!« Stattdessen war er aufgebracht.
»Könnten Sie mir erklären ...«
»Siezen wir uns wieder?«, unterbrach sie ihn, doch er hatte sich schon aus dieser zu lange dauernden Defensive befreit.
»Könntest du mir erklären, was du da mit mir machst?«
»Du hast doch sogar selbst gespürt, dass du heute nicht zu mir passt.«
»Ich habe mich für eine Milonga angezogen!«
»Ich werfe dir doch nichts vor.«
»Warum also ...« Sie ließ ihn nicht ausreden.
»Ich wollte, dass du deiner Truppe was zu erzählen hast und doch nicht mit ihnen teilen musst.« Es war offensichtlich, dass sie sich mit ihm aussöhnen wollte.
»Leo! Ich wollte dich nicht beleidigen, nur eine Freude machen, also denk nicht darüber nach, genieß es. Cin-cin!«
Er beruhigte sich, stieß mit ihr an und war sogar in der Lage, unter Verweis auf sein neues Outfit Bewunderung zu äußern:
»Wie konnten Sie ... wie konntest du da so sicher sein?«
»Ich habe dich doch gestern abgetastet. Mach dir übrigens keinen Kopf, das ist vorerst nur geborgt.«
Ehe er dies kommentieren konnte, erschienen die Kellner mit den Vorspeisen, und Leo ließ wieder zu, dass sie alles auswählte, worüber er letztlich froh war, weil er sich die meisten Speisen nicht zu bestellen gewagt hätte, zwar fehlten in dem Angebot für die Gäste die Preise, doch er hatte keine Ahnung, was sich hinter den exotischen Bezeichnungen verbarg. Als das Abendessen vorbei war, wusste er dank ihr, wie man Austern mit Pumpernickel aß und lernte auch sehr schnell, mit einem seltsamen chirurgischen Gerät das beste Fleisch aus den raffinierten Verstecken in den Scheren eines Hummers herauszuholen. Sie lobte ihn, und er war recht stolz darauf. Dann deckte man ab, und ihn erwartete eine kalte Dusche.
»Wann hast du dich entschlossen, Gigolo zu werden?«
Jetzt traf ihn dieser Ausdruck härter als von seiner Mutter.
»Na, erlaube mal ...??«
»Bist du beleidigt?«
»Du hast selbst gesagt, ich bin ein ...«
»Taxi-Dancer! Aber diese Bezeichnung haben sich die Gigolos ausgedacht, ähnlich wie die Müllmänner, als sie begannen, sich als Fachkräfte für Entsorgungstechnik zu bezeichnen, im Grunde ist es doch alles eins.«
»Ein grundlegender Unterschied besteht für mich dann doch darin.«
»Aha, und welcher?«
»Ich tanze ganz normal mit den Frauen. Oder hast du den Eindruck, ich prostituiere mich??«
»Nein. Aber du hast aufgehört, normal zu arbeiten.«
Das ließ er sich nicht gefallen.
»Du arbeitest wahrscheinlich aber auch nicht allzu viel!«
Doch er hörte schnell damit auf, warum sollte er sich selbst und ihr den Abend verderben, sie war eben reich und verrückt, vielleicht hatte sie ihn ja auch gar nicht beleidigen wollen ... »Entschuldige, aber ...«
»Ich habe gearbeitet, solange ich konnte«, sagte sie sachlich. Er war froh, dass sie die Entschuldigung annahm, und er zeigte Interesse.
»Und als was?«
»Na, als Tänzerin.«
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er das schon hätte sehen müssen, als er sie zum Parkett führte, war sie doch mit ausgedrehten Fußsohlen ins Untergeschoss des Mánes gekommen, die Fersen dicht beieinander stehend, und beim Tango hatte sie jede seiner Bewegungen vorausahnen können!
»Also eigentlich eine Kollegin? In der Operette?«
»In der Oper.«
»Wo?«
»Wo wir gestern waren, von dort aus ein Stück flussabwärts. Wir haben es vom Fenster aus gesehen.«
»Du meinst jetzt nicht das Nationaltheater ...«
»Das eben meine ich.«
»Warst du dort im Ballett?« Sie lachte.
»Eher so eine, die man als Primaballerina bezeichnet.« Er starrte sie ungläubig an, bis sie mit der Auflösung kam.
»Du musst mich dir etwa um hundert Jahre jünger vorstellen! Willst du einen Nachtisch? Cameriere!« Sie ließ sich noch einmal die Karte bringen, doch diesmal fragte sie ihn, ob er irgendetwas möge.
»Eis.«
»Kann ich es dir noch etwas aufbessern?«, fragte sie, wartete aber nicht mehr auf eine Antwort.
»Un sorbetto con limone«, bestellte sie und stand auf.
»Entschuldige, ich gehe kurz auf mein Zimmer, mich umziehen und vor allem eine rauchen, ehe Brüssel auch noch dort Rauchmelder einführt.«
Er musste einen weiteren verächtlichen Blick des Kellners verdauen, der ihm recht dreist zu verstehen gab, wofür er ihn hielt, doch er hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder ihm den weißen Gallert ins Gesicht kippen oder ihn ignorieren und essen. Der fremdartige Name bezeichnete normales Wassereis, doch sie hatten es stark mit Wodka aufgebessert. Durch diesen gestärkt versuchte er, Kája telefonisch zu erreichen.
»Na, wie läuft’s, Spacko, ist sie hinter dir her?«
»Na, ich weiß nicht ...«
»Wie meinst du das, Spacko??«
Er berichtete kurz, wie sie ihn eingekleidet, beköstigt und nun im Restaurant abgestellt hatte.
»Ich hoffe, sie holt mich hier ab, und die lassen mich nicht wie einen Hochstapler hochgehen«, meinte er abschließend. »Mensch, Spacko, das ist unvorstellbar!«, freute sich Kája, »und hör mal, wenn du nicht mit ihr im Bett landest, dann komm ins Kasino, Spacko, wir wollen heute nach der Schicht noch in Verlängerung gehen!«
Sie rauchte die Zigarette zu Ende, und als sie sich umzog, legte sie ihren Schmuck in den Safe, nur das Medaillon legte sie nicht ab, ihre nach Giorgios Ansicht »finale Versicherung«, mit der sie in der Regel auch schlief; wie sie die hiesigen Milongabesucher am Vortag gemustert hatte, wäre sie hier wahrscheinlich überall auffallend »overdressed« gewesen. Sie schaute noch einmal in ihre Mailbox und fand eine einzige Mitteilung. Giorgio fragte besorgt, ob sie auch keine Probleme habe, und sie beruhigte ihn mit einer kurzen Nachricht, sie habe das Glück gehabt, einen Tänzer zu finden, der außergewöhnlich gut Tango tanzen könne und eigentlich auch ihren tschechischen Bodyguard spiele, somit werde sie versuchen, ihn auch für ihre nächste Reise zu buchen. Und sie fügte hinzu, sie werde in der Nacht telefonisch mehr berichten. Dann fuhr sie nach unten, ließ den jungen Mann vom Liftboy aus dem Restaurant abholen, und Peppino