Dante und ich sind wie die Spatzen auf der Stromleitung. Wir spüren’s nich direkt, aber da läuft was Elektrisches unter unseren Füßen durch. Dante sieht mich kurz an. Ist es okay? Ich nicke und er fährt hinter seiner Mutter her. Ich folge ihnen ein Stück, aber es ist klar, dass ich nicht eingeladen bin, mit ihnen Boot zu fahren. An einer der Säulen bleib ich stehen und starre das Bild an, das da an der Wand hängt. Es ist alt, vielleicht fünfzehn Jahre. Und es wurde hier oben in Saaks aufgenommen, als es noch ein Hotel war. Auf dem Foto sitzen zwei Männer an einem runden Tisch am Ufer von unserem See. Sie sind beide jung, haben Anzüge an und sehen reich und schön aus. Eine schöne, junge Frau bringt ihnen Champagner auf einem Tablett. Sie trägt eine Hoteluniform. Das ist ganz klar Dantes Mutter, als sie hier im Hotel gearbeitet hat. Unabsichtlich reißen sich meine Augen von dem Foto los und folgen Dantes Mutter. Sie steht am Ausgang der Bibliothek, wartet auf Dante – und beobachtet mich, die Augen geweitet. Ich sehe, dass sie
HELIKOPTER-ELTERN
Als ich in den großen Saal komme, hab ich immer noch so halb im Ohr, was Dantes Mutter von den Bällen erzählt hat, die hier mal stattgefunden haben. Mal ehrlich: Bälle sind was für
„Enni!“
Normalerweise schießt Lucky auf mich zu, sobald er mich sieht, und umarmt mich. Is nur logisch, weil schließlich will er mich heiraten. Auch wenn wir damit vermutlich noch warten müssen, bis er alle Zähne hat. Allein wegen der Hochzeitsfotos. Falls du dich fragst: Lucky ist sechs.
Heute bleibt er an seinem Platz und winkt mir nur. Er sitzt mit einer großen, verspiegelten Sonnenbrille auf der Nase an einem Tisch am Fenster, hinter dem sich die Berge auftürmen, bis sie an die Wolken stoßen. Aber dafür hat Lucky grad keinen Blick. Er spielt Poker mit Karan, Alba, Lilith und Omar. Als ich zu ihnen komme, schauen alle auf. Nicht gerade erfreut. Mehr so, wie man einen anguckt, der im Aufzug gefurzt hat. Ich hebe die Arme, Handflächen nach vorn.
„Regt euch wieder ab, ich will ja gar nich mitspielen!“
Daraufhin chillen sie alle ’n bisschen. Mit mir will keiner mehr Poker spielen. Was echt schade is. In Saaks muss man fünfzig Cent für jedes Schimpfwort bezahlen. Also hätt ich das Geld echt gut brauchen können! Poker is genau mein Spiel. Du musst gut in Mathe sein und gut darin, andere zu durchschauen. Leider war ich nicht schlau genug, die anderen ab und zu gewinnen zu lassen. Vielleicht hätten sie mich dann weiter mitspielen lassen …
„Du schuldest mir noch zwölf Euro“, erinnere ich Omar.
Er verdreht die Augen. „Sch-schon g-g-gut. D-d-u weißt, w-wo ich w-wohne.“
Ich zieh einen Stuhl an den Tisch und setz mich neben Lucky. Dabei werfe ich einen Blick auf seine Karten. Klar spielen sie mit Liliths Karten … Die haben in den Ecken so Punkte, die man ertasten kann, aber nur auf der Bildseite, sonst wüsste ja jeder, wer welche Karten hat. Trotzdem frag ich mich, ob es Lilith gegenüber unfair ist. Sie kann ja nicht sehen, wie die anderen gucken. Sie kann nicht an ihren Gesichtern ablesen, ob sie bluffen oder nicht. Dann sehe ich, dass der größte Stapel Chips vor Lilith liegt. Wie immer. Man darf die Kleine nicht unterschätzen …
Ich war mal ganz kurz bei ’ner Pflegefamilie in Kreuzberg. Nachts hab ich versucht abzuhauen, aber mein Pflegevater war immer wach –
„Wenn’s dunkel wird, werd ich wach“, hat er gesagt. „Wie ’n Vampir. Aber keine Sorge – ich trink kein Blut, nur Bier.“
Und beim Biertrinken hat er gezockt. Er saß mit seinem Laptop im Wohnzimmer und hat die halbe Nacht online gepokert. Er hat’s mir beigebracht. Und nach drei Tagen war klar, dass ich gewinne. Also so richtig. In der vierten Nacht hat er mich aufgeweckt. Superschlechtes Gewissen, aber trotzdem gefragt, ob ich mit ihm zocken will. Wollte ich. Und die Nacht drauf auch. Aber da musste seine Frau aufs Klo und wir sind aufgeflogen. Die war wild, sag ich dir! Hat ihm richtig die Hölle heißgemacht. Als ich wieder nach Hause gedurft hab, hat Dennis mir hundertzwanzig Euro gegeben.
„Deine Hälfte“, hat er gesagt.
Dabei wär meine Hälfte nur hundertzwölf Euro und vierundachtzig Cent gewesen. Und geben hätt er mir die auch nicht müssen. Hochanständiger Typ, der Dennis.
Lucky hat den Kreuzkönig und nur Kleinvieh auf der Hand. Aber auf dem Tisch liegt auch ein König, er hat also ein starkes Paar. Ich seh die anderen der Reihe nach an. Karan is nervös. Das kann alles heißen. Karan is immer nervös. Er ist der größte Vierzehnjährige der Welt, hat das Gesicht eines Mongolen-Fürsten, der gleich in die Schlacht zieht – und Angst vor seinem eigenen Schatten.
Omar ist hochrot im Gesicht und atmet schwer. Das liegt daran, dass er Asthma hat. Und ein
Omar atmet tief ein.
„G-gehe m-mit und e-erh-höhe um …“
Er darf höchstens um fünfzig Cent erhöhen.
„F-fünfzig Cent.“
Er hat mindestens zwei Zehnen auf der Hand, besser als Lucky. Lucky ist als Nächster dran. Er schielt mich von hinter seiner Sonnenbrille an. Ich schüttle kaum merklich den Kopf.
„Och. Bin raus“, sagt Lucky enttäuscht und legt seine Karten verdeckt weg.
Wie auf Kommando legen Karan, Lilith und Alba ihre Karten weg.
„
Lilith und Alba sind auch stinksauer.
„Das is echt das Letzte“, sagt Lilith.
„Nicht cool, Enni“, fügt Alba hinzu, als würde sie mit einem Hundewelpen reden, der ins Bett gepinkelt hat. „Nicht cool.“
„Ja ja“, sag ich lahm, dabei weiß ich natürlich, dass sie recht haben …
Nur Karan ist nicht sauer, sondern immer noch nervös. Genauso nervös wie vorher. Es hatte also nichts mit dem Spiel zu tun.
Omars Karten liegen überall verteilt. Eine Herzzehn ist in meinem Schoß gelandet, die Pikzehn hat sich mehrfach gedreht, bis sie unterm Tisch liegen geblieben ist. Lucky hebt sie auf und grinst mich dankbar an.
„Das war knapp, Mann!“, sagt er.
Da knattert es plötzlich draußen. Es klingt, als hätte einer unseren Aufsitz-Rasenmäher Mo angelassen. Aber es ist nicht Mo. Mo kann nicht fliegen. Und kaputt ist er auch. Ich weiß, wie es sich anhört, wenn ein Helikopter vor der Schule landet.