Sie legt Dante eine Hand auf den Unterarm. Er lächelt zurück. Ein bisschen so, wie alte Leute manchmal kleine Kinder anlächeln. Marie achtet nicht auf uns. Sie darf mit dem Handy ihrer Mutter spielen und murmelt leise (und
„Haben Sie das Internat noch als Hotel gekannt?“, frage ich.
Viola Dahlem lacht und sieht dabei aus wie ein junges Mädchen. „Gekannt? Ich hab hier gearbeitet. Die halbe Familie war hier angestellt, bevor die zugemacht haben … Ich war im Service. Mein Vater war Concierge. Das hat noch was geheißen damals. Und meine Mutter war Souschefin. Die Küche hier war legendär! … Aber eure Luisa steht dem ja in nichts nach. Nur damals gab es hier noch richtige Feste, Bälle, für Hunderte Gäste! Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen …“
Ich sehe mich um. Doch, kann ich. Es is gar nich schwer, sich das Saakser Internat so vorzustellen, wie Viola es beschreibt. Die Bibliothek sieht aus wie in einem Film. Die Decke über uns ist gewölbt und wird von grauen Säulen gestützt. Jede hat eine andere Gestalt: Götter, Drachen, Pferde, Schlangen … Die Holzregale sind uralt und geschnitzt und tragen 50 000 Bücher. Ich hab unseren Deutschlehrer Herrn Laurenz mal gefragt, wozu wir die überhaupt brauchen. Alle Schüler haben nämlich Zugang zu Hörbüchern und E-Books, ohne Limit.
„Aber Enni – die riechen nach nichts!“, hat er gerufen. „Alte Bücher duften … nach Vanille.“
„Und neue?“
Er hat gelächelt. „Nach Versprechen.“
Is wahrscheinlich Shakespeare oder so ’n
„Ich find’s immer noch sehr prächtig“, sage ich. „Ich hab noch nie irgendwo gewohnt, wo’s so schön war.“
„Nein“, sagt Dante. „Ich auch nicht.“
Und Dantes Mutter nickt. „Ich bin froh, dass ihr hier wohnen könnt …“ Ihre Stimme wird dünner. „Auch wenn du uns furchtbar fehlst, Schatz!“
Marie schaut von Dantes Handy auf. „Kommst du bald nach Hause und wohnst wieder bei uns?“
Dantes Mutter wird verlegen, aber Dante sieht seine Halbschwester direkt an. Er ist zwölf. Er hat noch nicht vergessen, dass keiner gern angelogen wird. Auch nicht kleine Kinder. Gerade nicht kleine Kinder.
Kennst du diese 3-D-Bilder, wo du auf den ersten Blick nur kleine Punkte siehst? Du musst schielen, damit du raffst, was da in 3-D zu sehen ist. Aber wenn du’s mal gesehen hast, siehst du’s immer. Mit Lügen ist es genauso. Wenn du jemanden mal bei ’ner Lüge erwischt hast, wird er nie wieder ganz flach.
„Nein, Marie“, sagt Dante sofort, aber total lieb. Ich könnte ihn umarmen dafür. „Ich wohne hier, bis ich mein Abi hab, und dann geh ich an die Uni.“ Er grinst. „Hoffentlich.“
Marie nickt und spielt weiter, komplett unbeeindruckt. Man muss schon ein bisschen Röntgenblick haben, um es zu sehen: dass die Kleine gerade nicht wirklich zockt. Sie guckt nur aufs Display und tut als ob. Schindet Zeit, bis sie sich gefangen hat und ihr keiner anmerkt, wie sehr sie die Information trifft. Die Puppe ist
„Meine Mutter wohnt in Berlin, mein Vater in Köln und mein Bruder ist in der Schweiz“, sage ich leise.
Sie schaut kurz auf. „Du hast einen Bruder?“
„Noah“, sage ich. Und wie immer is da dieser Stich, wenn ich an ihn denke. „Er fehlt mir total. Aber wenn wir zusammenwohnen würden, würd er mir wahrscheinlich total auf’n
Marie lacht auf. „Total“, sagt sie und grinst mich an.
Dante und seine Mutter reden inzwischen über die Uni und ich klinke mich wieder ein.
„Mit deinen Noten – natürlich!“, ruft seine Mutter gerade überzeugt.
„Mal gucken“, meint Dante. „Bis dahin sind’s noch Jahre!“
„Du kriegst sicher so ’n Begabtenstipendium“, sage ich harmlos.
Na klar seh ich, dass Viola sofort steif wird. Sie sieht mich an, als würd sie erst jetzt merken, dass ich am Tisch sitze. Vielleicht ist es so. Zumindest merkt sie erst jetzt, wer da am Tisch sitzt. Dante hält kurz die Luft an. Jetzt bin ich dran.
„Das wollte ich schon längst fragen“, sage ich harmlos und es tut mir leid, ehrlich! „Von wem kriegt Dante eigentlich sein Stipendium hier in Saaks?“
„Was?“ Viola haucht das Wort nur. In ihrem Hirn rattert es. Dante und ich sehen sie erwartungsvoll an. Schließlich muss sie was sagen. „Also, das ist … Reden wir heute doch nicht über so bürokratisches Zeug. Das interessiert euch garantiert nicht. Wir wollten doch Boot fahren gehen.“
Dantes Mutter will aufstehen, aber Dante, Marie und ich rühren uns nicht. Marie tippt weiter auf dem Handy rum und hält es ihrer Mutter kurz vors Gesicht, um es zu entsperren.
„Gleich“, sagt Dante geduldig. „Enni hat dich was gefragt, Mama. Ich hab’s ihr nicht sagen können. Wer zahlt denn mein Stipendium hier?“
Marie guckt von einem zum anderen und weiß nicht, was los ist. Wie denn auch? Viola zuckt mit den Schultern und versucht zu klingen, als wär die Antwort nicht wichtig.
„Puh, muss ich nachsehen. Irgendeine Stiftung in München.“
„Haben Sie das Stipendium beantragt?“, frage ich wie aus der Pistole.
„Ich … glaub schon, ja. Ja, klar, vor Jahren.“
Dante und ich warten. Sie sagt nichts mehr.
„Und warum kriegt er es?“, frage ich schließlich. „Ich meine, wofür? Ist es ein Begabtenstipendium? Oder eins für Rollstuhlfahrer?“
Seine Mutter sieht mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht gespuckt. Empört. Ich höre ein Rauschen in den Ohren und sehe ein bisschen rot. Ich versteh sie ja. Sie will das nicht erzählen. Aber zumindest Dante hat ein Recht, es zu wissen.
„Das ist eine gemeinnützige Stiftung, Enni“, sagt Dantes Mutter kalt. „Die Satzung kenn ich nicht auswendig, aber ich kann dir bestimmt einen Ausdruck besorgen. Und ja – Dante bekommt das Stipendium, weil er im Rollstuhl sitzt.“
Das Rauschen wird lauter. Ich hab nix dagegen, dass sie lügt. Manchmal is Lügen auch nur Karate: mehr Verteidigung als Angriff. Es is auch nicht schlimm, dass sie schlecht lügt. Sie würd’s besser machen, wenn sie könnte. Was mich echt
„Komisch“, sage ich zu ihr. „Ich sitze nicht im Rollstuhl. Und krieg dasselbe Stipendium. Eine Anwaltskanzlei überweist das Geld.“
Sie