6. Wandel 3. Es muss mehr polarisiert werden
Polarisierung erzeugt Schärfe und erhöht die Erkennbarkeit. Durch Polarisierung unterscheiden wir hell und dunkel, manchmal auch vereinfachend schwarz und weiß. Dadurch erscheint vieles klarer, wie etwa die überzeichneten Charaktere in großen Kinofilmen mit ihren strahlenden Helden gegen finstere Schurken. Polarisierung schafft Profilierung und fördert die Einprägsamkeit. Und sie fordert heraus: Bist du für mich oder gegen mich? Dadurch trennt eine Marke in echte Freunde und falsche Freunde. Falsche Freunde meckern nur und kosten Geld, weil sie nicht zur Marke passen.
Celebrities werden durch Polarisierung verständlicher, mitunter liebenswerter und somit anfassbarer. Denn sie haben nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen. Wie bei Normalsterblichen ist mit Licht auch Schatten verbunden. Der Blick in die private Normalität überwindet Distanzen.
In der Kommunikationspraxis wird Polarisierung allerdings meist gemieden. Die Angst vor negativen Reaktionen seitens der Konsumenten ist zu groß – trotz gegenteiliger Behauptungen aus den Marketingabteilungen. Im Zweifelsfall werden spannende, aber „irgendwie schwierige“ Werbespots gern ins Internet abgeschoben, während die klassische Kampagne in TV und Print dem breiten Mainstream mundgerecht geliefert wird. Auch Herr Liechtenstein war für Edeka lange nur im „Schonraum“ Internet unterwegs. Den Abverkauf erledigte der deutlich plumpere Volkstribun Reiner Calmund, dessen Bauchentscheidung für die richtigen Würstchen gerade zur WM-Zeit den Absatz von Grillgut ankurbeln half.
Die Angst des Marketingmanagements vor skurrilen Helden und polarisierenden Geschichten wird durch quantitative Werbewirkungstests noch geschürt. Die vorgegebenen Benchmarks in den Tests beziehen sich meist auf Sympathie- und Akzeptanz-Scores oder den Informationsgehalt über die Produkte, was durch Polarisierung in aller Regel nicht erfüllt werden kann – und ja auch nicht soll. Welchen Informationsgehalt vermittelt Liechtenstein denn schon über die Edeka-Produkte? Es ist ja alles supergeil. Wie viele finden ihn denn in seinem Milchbad wirklich sympathisch? Eben wegen dieser Risiken setzen viele Unternehmen und Werbestrategen lieber auf Bewährtes, wenn es um die Begeisterung der Massen geht. Dabei ist Polarisierung gerade wichtig, um den Sumpf gleichmacherischer Beliebigkeit zu verlassen.
Polarisierung heißt, den etwas anderen Weg zu gehen, um überhaupt noch echte Statements für die Marke zu erzeugen.
Ein Zeichen setzt hier die ING-Diba mit Dirk Nowitzki, indem die übliche Bankenwerbung auf den Kopf gestellt wird. Nicht Business-Kompetenz, Leistung, Zahlen oder Top-Service werden präsentiert, sondern Dirk Nowitzki als etwas ungelenker Normalo, der in seiner Freizeit „Größe“ beweisen muss. So holt er hilfsbereit in einem Spielzeugladen dank seiner Größe aus dem obersten Regal ein Spielzeug herunter, das sich ein kleines Kind so sehr wünscht. Der Clou: Die Mutter des Kindes wollte es eigentlich ihrem Kind nicht kaufen und hat die ganze Zeit so getan, als wäre sie zu klein und käme nicht an das Spielzeug so hoch oben im Regal heran. Umso sparsamer schaut sie Nowitzki an, als der große Retter helfend herbeieilt. Aber: Für das Kind hat er die Sterne vom Himmel geholt. Und das ist das Wichtigste.
Abb. 10: Der Star als Normalo – Dirk Nowitzki macht sich im Spielzeugladen unfreiwillig zum Deppen
Nicht der herausragende Sportstar wird inszeniert, sondern Dirk Nowitzki in seiner ganzen alltags(un)tauglichen Menschlichkeit. Damit signalisiert die ING-Diba eine für Banken neue Nahbarkeit. Als Kunde braucht man sich nicht für kleine Ungelenkheiten zu rechtfertigen oder gar zu schämen, denn „große Leute“ haben sie ja auch, und am Ende werden Schwierigkeiten immer irgendwie gemeistert. Die Botschaft der Bank: Wir finden auch für ganz normale Kunden (und Situationen) gute Lösungen.
Wäre eine Polarisierung auch mit klassischen Stars möglich? Nehmen wir die Lichtgestalt Franz Beckenbauer als Beispiel, für den lange Zeit andere Gesetze zu gelten schienen. Ganz Großes wie der Gewinn von Weltmeisterschaften gelangen ihm als Spieler und Trainer mit unfassbarer Leichtigkeit. Selbst private Krisen, an denen andere zerbrechen, haben ihm offenbar nichts anhaben können. Franz Beckenbauer ist so zum „Kaiser“ geworden, mit göttergleichen Fähigkeiten, wie sie Helden in klassischen Mythen zugeschrieben werden. Und dennoch: In der Werbung ist er heute schwerer einsetzbar, weil von Stars erwartet wird, dass sie sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Von einem Kaiser, der scheinbar agiert, wie er will, ist das kaum zu erwarten. Richtig neue Erzählformate zu entwickeln, ist mit einem wie ihm nicht einfach. Nicht bloß glänzen und strahlen, sondern auch Schwächen zeigen, Privates teilen, Nähe vermitteln und Anfassbarkeit bieten – das passt nicht zu einem Kaiser. Franz Beckenbauer ist eben ein klassischer Promi-Gott und kein Meister der neuen „Pröffentlichkeit“.
7. Was lernen wir von den neuen Meistern der „Pröffentlichkeit“?
Celebrities sind die Hauptdarsteller von Paradigmen, die in einer Kultur zu einer bestimmten Zeit von Relevanz sind.
Das psychologische Profil, das Prominente, Stars, Celebrities auszeichnet, ändert sich mit der Zeit in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Fragestellungen und Rahmenbedingungen: Die gottgleichen Stars und Diven der Nachkriegszeit wurden von Rebellen wie Jimi Hendrix und Che Guevara abgelöst, auf die Madonna und David Bowie als coole Ego-Inszenierer folgten, die wiederum ersetzt wurden von den heutigen Celebrities, die als „Normalo“-Promis das Versprechen vorleben, jeder kann mit festem Glauben, Fleiß und etwas Glück berühmt werden.
Eine vertiefende Analyse dieser psychologischen Profile offenbart die Hintergründe der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung: In der Bewunderung der Stars der Nachkriegszeit ließen sich die Grenzen des eigenen Könnens überwinden und die eigenen Idealvorstellungen zugleich erhalten. Die nachfolgenden Rebellen repräsentierten Wünsche, den vermeintlichen Übermächten des Establishments in Django-Manier individuell etwas entgegenzusetzen. In der Werbung stellten entsprechend Marlboro-Cowboy und Camel-Man die gesellschaftlich etablierten Regeln in Frage. Aus der individuellen Rebellion heraus entwickelte sich dann ein neuer Egokult der Superstars, dem Naomi Campbell und Claudia Schiffer in der Werbung Ausdruck verliehen. Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft fand in diesen Egostars ihre Vorbilder.
Mit den neuen Meistern der „Pröffentlichkeit“ hat sich das psychologische Profil etabliert, dass eigentlich „jeder ein Held oder Star“ werden kann.
In den Vordergrund rücken Protagonisten, die sich ganz normal wie du und ich geben, aber im nächsten Moment die große Glamourwelt repräsentieren können. Gute Beispiele sind Taylor Swift und Justin Bieber – als Persiflage spielt diese Rolle Friedrich Liechtenstein in der Werbung. Der Egokult bleibt einerseits bestehen, wird aber zugleich gebrochen, indem er demokratisiert wird und für alle gilt.
Das Profil der „Normalo“-Prominenten lässt sich vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Entwicklung verstehen, die bei aller Sympathie für Individualität wieder mehr Gemeinschaftsgefühl einfordert.
Es führt zugleich dazu, dass die Anzahl der Menschen, die berühmt werden wollen, immer weiter ansteigt – insbesondere in jüngeren Altersgruppen. Ob auf YouTube, Instagram oder in Blogs – überall wird nach Followern gesucht und entwickeln sich neue Stars.
Celebrities sind die Protagonisten großer Zeitgeist-Paradigmen, denn sie repräsentieren die Wünsche ihrer Fans: Idealbildungen, Rebellionen, Kultentwicklungen oder auch Normalisierungen.
Dabei können ältere, jüngere und alternative Paradigmen durchaus eine Zeit lang nebeneinander existieren. Als Testimonials können sie auch Übergänge zwischen den Paradigmen mitgestalten: Symbolisch half Frau Sommer in der Jacobs-Krönung-Werbung mit ihrem Kaffee, eine sich immer mehr individualisierende Gemeinschaft zusammenzuhalten. Und Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer war ebenfalls für alle da – unabhängig von ihrem individuellen Hintergrund. Sie machten werbliche Angebote in einer Zeit, in der ein Teil der Gesellschaft für mehr Individualität rebellierte und der andere Teil sich weiter an den etablierten Idealen orientierte.
Eine besondere