Seine Hände waren in meinem Nacken und unvermittelt fasste er in meine Haare und zog meinen Kopf nach hinten. Er küsste mich wild und unbändig. Ich spürte das Ziehen in meinem Unterleib. Plötzlich ließ er von mir ab. Ich war fast ein wenig enttäuscht.
»Worauf stehst du denn so?«, stellte ich die Gegenfrage, um etwas Zeit zu schinden und um wieder zu Atem zu kommen. Es kostete mich ziemliche Überwindung, ihn das zu fragen. Ich hätte mich als offen beschrieben, aber in seiner Gegenwart fühlte ich mich wie ein verklemmtes Mäuschen. Seine Antwort haute mich um.
»Ich würde dich gern lecken. Ich bin sicher, dass dir das gefallen würden.« Er grinste.
Mir blieb die Spucke weg. »Oh«, antwortete ich reflexartig, denn so unverblümt hatte mir das noch nie jemand ins Gesicht gesagt und schon gar nicht, wenn das Kennenlernen erst einige Minuten zurücklag. Aber es war auch nicht meine Art, mit Wildfremden auf Dachterrassen rumzumachen, von daher beschloss ich, dass ich mich in einer Ausnahmesituation befand, in der die Gesetze der realen Welt nicht mehr zählten. Im Nachhinein würde sich diese These als Volltreffer erweisen. Die Dachterrasse war schuld, dachte ich. Oder diese potthässlichen Skulpturen. Ich musste lachen, aus Scham und Aufregung und aus Geilheit.
Tom wiederum war noch nicht fertig mit seiner Ausführung. Er sagte: »Ich würde gern deine Haut auf meiner spüren. Und ich würde dich liebend gern stöhnen hören, wenn du kommst.«
Du liebe Güte, ich war baff. Er sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, mit einer Sicherheit, mit fester Stimme. Die Art, wie er es sagte, ließ mich erschaudern und ich war sicher, dass ich sehr laut stöhnen würde, wenn er es mir besorgte. Ich fühlte mich klein und unerfahren. Und ich wollte ihn. Ich wollte wissen, ob er bluffte.
»Gibst du mir deine Nummer?«, riss er mich aus meinen Gedanken, in denen ich soeben mit meinen Fingern durch seine langen Haare fuhr. Ich gab sie ihm. Und dann flog die Tür auf, und Nata kreischte: »Da bist du ja. Ich hab dich schon überall gesucht. Alle doof hier, nichts wie weg.« Sie riss mich an der Hand mit sich und ich drehte mich noch um, kurz bevor die Tür hinter uns zufiel, konnte ihn aber in der Dunkelheit nicht mehr ausmachen. Nata erzählte vom Surfer-Typen, der sich als schön und total doof entpuppt hatte. Ich war mir sicher, dass sie Tom gar nicht bemerkt hatte. Sie quasselte den ganzen Weg von der Galerie zu meiner Wohnung und als wir schon fast angekommen waren, fragte sie: »Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Und warum grinst du die ganze Zeit so bescheuert?«
***
Die nächsten Tage schwamm ich in einem Wechselbad der Gefühle. Ich versuchte, mir einzureden, dass der »Vorfall« nichts zu bedeuten gehabt hatte. Aber wenn ich ehrlich war, wusste ich es besser. Er hatte mich fasziniert. Mit seiner Offenheit, mit der er mich so geplättet hatte. Ihn hatte eine Aura umgeben, die ich gern genauer erkundet hätte. Er war so schön frech gewesen. Ich musste lächeln, wenn ich daran dachte, und ärgerte mich, dass ich nicht schlagfertiger gewesen war. Ich neigte etwas zur Tollpatschigkeit und coole Sprüche fielen mir meist dann ein, wenn ein paar Tage vergangen waren. Ich schloss die Augen und dachte an ihn. Daran, wie er gerochen hatte. Wie er mich angesehen hatte. Wie er mich geküsst hatte. Wie außergewöhnlich er gewesen war. Ich lag auf meinem Bett, schaute an die Decke und fühlte mich sehr unbefriedigt. Würde er sich melden? Er hatte etwas in mir berührt. Ich hatte Sex schon immer geliebt, wenngleich ich in meinen Beziehungen gern mehr ausprobiert hätte. Aber wenn ich in der Vergangenheit allen Mut zusammengenommen und darüber gesprochen hatte, was ich mir wünschte, was ich gern anders gemacht oder liebend gern mal ausprobiert hätte, da wurde all das im Keim erstickt. Ich erntete Unverständnis und Kopfschütteln. Ich hatte immer schon eine blühende Fantasie und stellte mir in meinem Kopf die wildesten Dinge vor, die aber, so hatte es mich die Erfahrung gelehrt, dortzubleiben hatten, wo sie hingehörten. In meinem Kopf. Und so kam es, dass ich irgendwann aufgehört hatte zu sprechen, zu fragen, zu versuchen, es geiler zu machen. Ich freundete mich notgedrungen mit der Vorstellung an, dass das, was in meinem Kopf war, es nie und nimmer nach draußen schaffen würde. Und so hatte ich Beziehungen, in denen der Sex sehr schnell von »normal bis gut« in »geht so bis stinklangweilig« abrutschte. Und dann kam so jemand wie Tom daher, die Versuchung in Person, der einfach sprach, ohne Rücksicht auf Verluste. Der so offen, ja so dreist war und mich geküsst hatte, einfach so, ohne zu fragen. War das seine Masche?
***
»Keine Ahnung«, ratlos stand ich vor meinem Kleiderschrank. Nackt. Ich telefonierte mit Nata. Wir wollten ausgehen und stimmten uns soeben in der Klamottenfrage ab.
»Ich hätte Bock auf Jeans und irgendein Top?«
»Ich rufe dich in einer Minute zurück, ich checke schnell meinen Kleiderschrank«, sagte sie und legte auf.
Ich betrachtete mich im Spiegel. Die Haare fielen mir über meine Brüste. Mein Blick wanderte zu meinem Bauch, zu meinen Hüften. Zu meinen Oberschenkeln. Ich öffnete die Beine und betrachtete mich. Ich streichelte ganz sanft meine Schamlippen und beobachtete, wie das im Spiegel aussah. Mein Gesichtsausdruck veränderte sich. Ich erschrak, als das Handy in meiner anderen Hand zu klingeln anfing.
»Und? Jeans?«, fragte ich.
»Oh, hey. Pat? Ich bin es, Tom.«
»Oh. Ähm. Hey«, sagte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Zu mehr war ich nicht imstande.
»Also, ich kann noch mal anrufen, wenn es dir jetzt nicht passt.«
»Oh, doch. Schon in Ordnung. Wie geht’s dir?«
»Um ehrlich zu sein, ich würde dich gern wiedersehen. Hast du spontan heute Zeit und Lust?«
»Eigentlich bin ich schon verabredet.«
»Okay, na dann, vielleicht ein anderes Mal?«
»Nein, nein. Ich würde dich auch gern sehen.«
»Schön. Dann um acht? Im Pablos?«
Das Pablos war ein nettes Restaurant, das gerade absolut hipp war. Ich war schon einige Male dort gewesen und mochte die Atmosphäre sehr. Das Essen war ausgezeichnet.
»Ich hab schon einen Tisch reserviert. In der Hoffnung, du hättest Bock.« Ich hörte das triumphierende Grinsen in seiner Stimme. Verdammt, wie hatte er so sicher sein können?
***
Ich rief Nata an und sagte ohne schlechtes Gewissen ab. Wir waren mit den Mädels verabredet und es würde nicht sonderlich auffallen, ob ich dabei wäre oder nicht. Als sie mich fragte, warum ich nicht mitkäme, antwortete ich, ich würde es ihr bei nächster Gelegenheit erzählen. Sie gab sich zufrieden. Die tausend Schmetterlinge in meinem Bauch allerdings gaben sich, nachdem ich aufgelegt hatte, mit überhaupt gar nichts zufrieden. Wie gut, dass ich schon geschminkt war. Meine Hände zitterten. Ich stand noch immer vor meinem Kleiderschrank und blickte ratlos hinein. Ich musste mich beeilen und blieb bei der ursprünglichen Idee, Jeans und Top. Fuck, ich konnte nicht denken. Ich versuchte Ohrringe, entschied mich dagegen. Ich versuchte eine Kette, ließ auch die weg. In Gedanken war ich auf dieser Dachterrasse. Und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob da noch dieses Knistern sein würde, wenn wir uns wiedersahen. Ich war gespannt und vor Aufregung schon außer Atem, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und ich mich zu Fuß auf den Weg zum Pablos machte. Ich ging zügig und die frische Luft und die Bewegung halfen mir, meine Gefühle, die gerade die Party des Jahres feierten, einigermaßen in den Griff zu bekommen. Als ich um die Ecke bog, wartete er bereits. Er sah gut aus. Verdammt. Warum war mir nicht aufgefallen, wie gut er aussah? Schwarze Lederjacke, Jeans, die dunklen Haare, die strahlend weißen Zähne. Ich hatte das Gefühl, ihn gar nicht richtig angesehen zu haben bei unserem ersten Zusammentreffen und es kam mir vor, als wäre es ewig her. Dass er so attraktiv war, verunsicherte mich sehr. Ich war oft in Anwesenheit von attraktiven Menschen, egal ob Männer oder Frauen, gehemmt.