Tief durchatmend wandte sie sich vom Haus ab und ging langsam zum Grundstück ihrer Eltern zurück.
Die Meldung im Internet – die würden nicht nur sie und André gesehen haben.
Sondern sehr wahrscheinlich auch der Mörder.
5.
»Merkst du was? Das ist eine Behörde«, flüsterte André Mia zu. »Trostlos wie damals.«
Sie hockten auf grünen Stühlen. In einem Gang mit grauen Türen.
Mia zuckte mit den Achseln. »Die kennen uns hier nicht mehr.«
Sie waren Stammgäste in der Polizeidirektion gewesen. Über Monate. Damals. 2008. Mit einem Mal kam es Mia so vor, als sei sie wieder in diese Phase des Suchens und Niemals-Findens zurückkatapultiert worden.
»Es ist, als wären wir gestern erst hier gewesen«, murmelte sie.
Wie aus dem Nichts materialisierte sich eine junge, durchtrainierte Frau vor ihnen. Cargohosen, Pullover. Hochgestecktes braunes Haar.
»Hauptkommissarin Hanne Schuster. Ich leite die Vermisstenabteilung.«
Damals war es ein Mann gewesen. Ein runder, gemütlicher Herr Ende 50 mit Glatze. Der genoss vermutlich mittlerweile seine Pension.
André erhob sich.
»André Böhme. Und das ist Mia Wagner. Eine Freundin unserer Familie.«
Mia schüttelte Frau Schusters Hand. Sie bewunderte, wie André so sachlich reden konnte. In dieser Situation. Wo sie gleich offiziell aussagen würden, dass die Internetzeichnung Monika abbildete.
»Kommen Sie bitte mit. Darf ich Ihnen Kaffee anbieten?«
Sie bejahten beide. Nahmen Platz in einem Büro, durch dessen Fenster sich ein wenig Sonne bemühte. Auf dem Sims standen Töpfe mit Kräutern, dazwischen ein Osternest mit bunten Eiern.
»Ich habe die Kräuter nur wegen ihres Duftes«, erklärte die Kommissarin. »Zum Kochen komme ich selten. Also: Sie sind hier wegen unseres Aufrufs.«
»Mia hat mich heute Morgen angerufen, weil …« André schluckte.
»Sie haben Monika Böhme erkannt?« Hanne Schuster warf einen Blick auf einen Stapel Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Es hörte sich an, als lobte sie ihre Besucher wegen der korrekten Antwort auf eine Quizfrage.
»Genau.« André räusperte sich. Er war blass im Gesicht.
Die Tür ging auf, ein Mann brachte drei Tassen und eine Kanne, Milchtüte und Zuckerdose.
»Danke.« Hanne Schuster nickte ihm zu. »Bedienen Sie sich bitte.«
Sie bemühte sich um eine freundliche, empathische Atmosphäre. Deshalb der Kaffee, und Koriander und Rosmarin auf der Fensterbank. Für all die Leute, die ihr Leben lang auf der Suche sein würden. Nach dem Menschen, der ihnen am meisten bedeutet hatte. Mia roch den Duft des Kaffees. Nicht so gut wie bei André, aber akzeptabel.
Die Kommissarin reichte ihnen ein Blatt. Die Zeichnung. Ausgedruckt. Gestochen scharf.
»Wir hatten anfangs absichtlich keine Haare hinzugefügt. Nach Ihrem Anruf hat ein Mitarbeiter ein Foto von Monika Böhme unterlegt und eine konkretere Zeichnung angefertigt.«
Sie hielt ihnen ein weiteres Papier hin.
Mia nahm es. Eine Zeichnung von Monika. Schmaler. Mit den kurzen krausen Locken. Sogar den Ohrringen. Verblüffend.
»Charakteristisch an einem menschlichen Gesicht ist vor allem das Verhältnis zwischen Augen- und Nasenpartie. Außerdem natürlich die Länge und Breite.«
»Meine Frau war sehr zierlich. Die erste Zeichnung im Netz«, sagte André mit neuerlichem Räuspern, »wirkte etwas zu rund.« Seine Stimme brach. »Verzeihung«, brachte er hervor.
Hanne Schuster goss Kaffee ein. André starrte auf seine Tasse. Seine Hände zitterten. Er verkrampfte sie auf seinem Schoß.
»Mir ist bewusst, dass Ihnen diese Situation viel abverlangt«, sagte die Kommissarin. »Gibt es etwas, was ich zunächst für Sie tun kann?«
Mia berührte behutsam Andrés Arm. »Wir fragen uns«, sagte sie, »warum nur der Schädel gefunden wurde.«
»Da stehen wir bisher vor einem Rätsel.« Sie blätterte in den Akten. »Vom Zustand des Schädels her zu schließen, wurde er mit einem scharfen Messer oder einer Axt vom Rumpf getrennt. Es ist allerdings nicht mehr zu erkennen, ob dies vor oder nach ihrem Tod erfolgte. Sie hatten also recht, als sie damals Suizid kategorisch ausschlossen.«
»Ja«, sagte André. Seine Hautfarbe wurde eine Spur fahler.
»Sie sagten auch, Ihre Frau wäre niemals allein im Wald wandern gegangen.«
»Nein. Sie war ein Stadtmensch.« André schluckte hart. »Hat jemand ihr im Wald aufgelauert? Um ihr den Kopf abzutrennen? Glauben Sie das? Wer würde so etwas tun?«
»Der Fundort muss nicht der Tatort sein. Zunächst werden wir einen DNA-Abgleich machen, um den eindeutigen Beweis zu erbringen, dass es sich wirklich um den Schädel Ihrer Frau handelt, Herr Böhme. Vergleichsmaterial haben wir, das stellt kein Problem dar.«
»Wann wissen Sie Bescheid?«
»In wenigen Tagen, noch vor dem Osterwochenende.«
»Und dann? Was geschieht dann?« Endlich griff André nach der Kaffeetasse. Verschüttete ein klein wenig. Trank.
Mia beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Als er die Tasse abstellte, merkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte.
Hanne Schuster faltete die Hände. »Dann übernimmt die Mordkommission. Die Kollegen werden zunächst versuchen, einen Bezug zum Fundort herzustellen.«
»Ich möchte die Stelle sehen.« André sah die Kommissarin fest an.
»Das lässt sich einrichten. Ich bringe Sie hin.«
»Was für ein Bezug sollte das sein?«, fragte Mia.
»Wie gesagt, der Fundort muss nicht der Tatort sein. Daher gilt es zu klären, wie der Schädel in dieses Waldstück kam. Wurde sie in der Nähe umgebracht? Oder an einem völlig anderen Ort, und der Mörder hat den Leichnam im Wald abgelegt? Dies sind Fragen, die wir hoffentlich klären werden.«
»Und wo sind die anderen Überreste?« André klang wütend.
Hanne Schuster ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen.
»Wir wissen nicht, wo Ihre Frau umgebracht wurde. Ob es überhaupt in dem Waldstück war. Wir sind dabei, das Gebiet, in dem wir den Schädel gefunden haben, weiträumig und gründlich abzusuchen. Allerdings verschleppen Tiere Knochen oft über viele Kilometer.«
Mias Magen rebellierte. Ihr wurde bewusst, dass sie außer Kaffee heute noch nichts in den Magen bekommen hatte. Es war schon nach 2 Uhr.
»Tiere?«, krächzte sie.
»Das wäre die wahrscheinlichste Erklärung. Wenn der Leichnam im Wald liegt, wird er zur Beute der Natur, so grauenvoll der Gedanke uns auch vorkommt.«
Wolken schoben sich vor die Sonne, im Büro wurde es unversehens dunkel. Hanne Schuster knipste die Schreibtischlampe an. Eine Weile sagte niemand etwas.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Mia starrte auf die Kaffeekanne.
»Ich glaube nicht«, antwortete André. »Vielen Dank.«
»Wenn es Ihnen passt, würde ich Sie morgen Vormittag zum Fundort begleiten. Kann ich Sie in Ihrer Wohnung in der …«, sie blätterte in den Dokumenten, »Königsstraße abholen?«
»Sicher.« André stand auf. »Wiedersehen.«
Mia folgte ihm.
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