In ihrem Feed waren die neuesten Nachrichten aufgelaufen. Sie hatte alle möglichen Seiten abonniert und scannte in der Regel sämtliche Meldungen gewissenhaft, bevor sie diejenigen auswählte, die sie genauer lesen wollte. Meistens blieb sie bei Neuigkeiten zu Theater, Kinofilmen, Büchern und Ausstellungen hängen. Politik ließ sie nur wohldosiert an sich heran, Regionales mied sie beinahe ganz.
Dies nicht:
Schädelfund bei Tiefenellern.
Mia vergrößerte den Artikel.
Anfang April fanden Waldarbeiter einen skelettierten weiblichen Schädel im Wald bei Tiefenellern. Mittlerweile haben Forensiker mit Hilfe der Weichteilrekonstruktion das Aussehen der Frau am Computer generiert. Gesucht werden nun Zeugen: Wer kennt die Frau, die seit etwa zehn Jahren tot ist und zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen 30 und 40 Jahren alt war? Die Gesichtssimulation wurde absichtlich ohne Haare angefertigt, um nicht von den individuellen Zügen der Frau abzulenken. Bitte bedenken Sie, dass das Gesicht auch hagerer oder fülliger sein könnte. Weitere menschliche Knochen wurden nicht gefunden. Sachdienliche Hinweise …
Mia blinzelte. Sie klickte auf das Gesicht. Es sah aus wie eine Bleistiftzeichnung, irgendwie unfertig. Augen, Nase, Mund, Kinn, Halsansatz. Keine Haare.
Sie zoomte den Ausschnitt.
Ihr Herz schlug schneller. Sie rieb sich die Wangen, stand auf, goss Wasser in ein Glas. Trank.
Griff nach dem Handy und tippte Andrés Nummer.
Natürlich ging er nicht ran.
Sie drückte die rote Taste und wählte sofort wieder. Starrte durch das Fenster, in dem sie sich spiegelte, im bläulichen Licht des Tablets.
»Was ist denn!«, meldete er sich endlich.
»André? Ich bin’s, Mia.«
»Bist du verrückt? Weißt du, wann ich gestern ins Bett kam? Nicht gestern. Heute. Vor einer halben Stunde ungefähr.« Seine Stimme klang missmutig und alarmiert, beides zugleich.
»Hör mir zu, André: Ich schicke dir jetzt einen Link auf dein Handy. Versprich mir, dass du den gleich anklickst. Sofort, ja?«
»Ich surfe nie im Internet, und wenn, dann sicher nicht morgens um 5 Uhr.«
Wie zur Bestätigung der unchristlichen Uhrzeit ertönte in Mias Radio der Nachrichtenjingle.
»Bitte. Sieh. Dir. Diesen. Artikel. An.«
Sie legte auf. Griff nach dem Tablet und klickte auf »Teilen«.
Ging zum Fenster. Ein wenig Licht sickerte durch das Schwarz am Himmel.
Immerhin, wir haben April.
Direkt unter ihr startete jemand ein Auto und fuhr davon. Jemand, der zur Arbeit musste. Der eine Aufgabe hatte, mit der er den Tag füllen konnte. Womöglich ein ungeliebter Job, aber zumindest irgendeine Art von Sinn.
Mia stöhnte leise. Die Unentschlossenheit. Die Ängste. Die vielen Reisen, Fluchtwege durch die Welt, teuer bezahlt, und doch landete sie immer wieder bei sich selbst. In ihren eigenen Grenzen, die sich jeden Tag enger um sie schnürten. Unruhig setzte sie sich wieder vor das Tablet. Starrte das haarlose Gesicht an. Speicherte den Link ab.
Seit etwa zehn Jahren tot.
Verdammt. Zehn Jahre.
Zwischen 30 und 40 Jahre alt.
Kommt hin.
Das kommt verflucht noch mal hin.
2.
Sie konnte nicht auf Andrés Rückruf warten. Mia hastete ins Schlafzimmer, wühlte in den Kartons nach einem frischen Shirt, zog sich an. Sie wohnte seit fünf Monaten in dieser winzigen Wohnung im Bamberger Osten. Immer noch steckten ihre Anziehsachen in den Umzugskisten. Pro forma hatte sie im Netz nach einem günstigen Schrank gesucht. Ohne sich je für einen zu entscheiden. Worin sie ihre Klamotten aufbewahrte, war ihr herzlich egal.
Wie das meiste.
Schnell war sie zur Tür draußen.
Die kalte Luft wischte den letzten Rest von Müdigkeit weg, während sie in die Innenstadt radelte. Allmählich erwachte der Tag. Schwarz hoben sich die Doppeltürme der Gangolfskirche gegen den rötlichen Himmel ab. Hinter Andrés Fenstern brannte Licht. Sie drückte auf die Klingel.
»Mia?« Er trug einen Wollpulli mit Reißverschluss, Jeans und Crocs und ein bemüht freundliches Lächeln im Gesicht.
»Ich musste kommen.«
Damit du nicht wieder anfängst mit: du weißt schon, was.
Ihre Stimme zitterte, als sie hinzufügte: »Hast du das Phantombild gesehen?«
»Es ist … grauenvoll.«
Er ging ihr voraus in die Küche. In einem Glas schimmerte eine bernsteinfarbene Flüssigkeit.
»Nein, André! Du machst das nicht.«
»Der Schock. Mein Gott. So ein Schock.« Er griff nach dem Glas.
Sie nahm es ihm weg und trank die zwei Finger breit in einem Zug aus.
Die Verzweiflung. Die Panikattacken. Die Vernehmungen. Der Kampf gegen das eigene Gedächtnis. Die Angriffe der Medien. Der Alkohol. Alles kehrte zurück wie eine Meereswoge, die sie unter sich begrub.
»Ach. Du darfst?« Er stemmte die Hände in die Hüften. Nach Monikas Verschwinden hatte er zuerst abgenommen, aber mittlerweile wieder zugelegt. Mia war froh drum. Sie musste an den Spruch denken, wonach man niemals einem knochigen Koch trauen sollte.
Sie stellte das Glas ab.
»Für dich ist also der Brandy genau das passende Frühstück, wie?« André ließ nicht locker.
Schwindelig vom Alkohol, zog Mia sich einen Stuhl heran. Essensreste standen auf dem Tisch, der Boden war seit Wochen nicht gewischt worden. Resigniert ließ André sich ebenfalls auf einen Stuhl fallen.
»Ich hätte das Restaurant verkaufen sollen, als sie mich darum bat. Unsere Arbeitszeiten waren zu unterschiedlich. Wir haben uns praktisch nicht mehr gesehen.«
»Das Restaurant war dein Leben.«
»Nein. Mein Leben war Monika.«
Er war abgestürzt. Nach Monika. Hatte das Lokal aufgegeben und arbeitete heute in einer Kantine. Was er verdiente, reichte für die winzige Erdgeschosswohnung, in die nie ein Lichtschimmer drang. Er hatte keine Ambitionen mehr, keine Pläne, keine Wünsche. Außer dem einen: durchzuhalten, der Schlaflosigkeit Paroli zu bieten. Von der Straße drangen die Geräusche des allmählich anschwellenden morgendlichen Verkehrs herein.
Mia sah, dass André geweint hatte. Seine Augen waren gerötet, die weichen Gesichtszüge umschattet. Damals hatten sie gegenseitig ihre Krisen kennengelernt. Sich in allem gestützt.
Ich war zu jung. Ich war erst 18.
»Warum ist ihr Kopf in dem Wald? Warum nur der Kopf? Und da oben am Ellerberg, meine Güte. Warum hätte sie dorthin fahren sollen? Oh mein Gott.«
Sie sahen einander an. Seinerzeit hatten sie sich die Köpfe zermartert, versucht, sich an etwas zu erinnern, an einen kleinen Baustein nur, der den Gedankengebäuden, die die Polizei um sie herum errichtete, irgendetwas Sinnhaftes hinzuzufügen hätte. Vergebens. Es gab nichts, an das sie sich zu erinnern vermochten, denn Monika hatte nie etwas erzählt.
»Wo war noch mal dieser Wanderparkplatz?«, fragte Mia, als ihr die Stille zu tief und zu gefährlich wurde.
André stand auf und schlurfte aus der Küche. Sie hörte ihn mit Schranktüren klappern und Schubladen auf- und zuziehen. Schließlich kam er wieder, eine Landkarte in der Hand.
»Räum mal den Kram da weg.«
Mia