Insgesamt habe ich über 20 Spurwechsler interviewt und mich dabei ganz bewusst auf Männer fokussiert. Denn während viele Frauen ab etwa 40 Jahren noch mal richtig Gas geben und neu durchstarten, weil ihnen die mittlerweile fast erwachsenen Kinder neue Freiheiten gewähren, resignieren Männer oft und gehen in die innere Emigration. Sie bleiben in der Rolle des Versorgers und teilweise auch des Opfers stecken. Oftmals fehlt ihnen der Mut, in der Lebensmitte etwas Neues zu wagen und altbekanntes Terrain zu verlassen. Sie fürchten bei einem Neustart insbesondere, ihren Status zu verlieren und sozial abzusteigen. Sind sich unsicher, ob ihre Partnerin und die Familie ihre Entscheidung mittragen würde. Gleichzeitig blockieren sie finanzielle Verpflichtungen. Etwa abzuzahlende Hypotheken für das Haus oder die zusätzlichen Kosten für die Ausbildung der Kinder. Der selbstgeschaffene goldene Käfig.
Es gibt viele Programme und Netzwerke speziell für Frauen. Das ist gut und richtig. Immer noch sind Frauen in Führungspositionen und auch in technischen (MINT-)Bereichen deutlich unterrepräsentiert. Aber sie holen auf, sie vernetzen und unterstützen sich gegenseitig, während Männer oft als einzelkämpferische Alpha-Tiere unterwegs sind. Von außen betrachtet sicher und entscheidungsstark, innerlich aber oftmals verzweifelt und erstarrt. Eingeschnürt in ein Korsett aus Verpflichtungen und gefühlten Verantwortungen, haben sie nicht gelernt, Hilfe zu suchen oder anzunehmen. Läuft es dann einmal nicht mehr ganz rund, weil die Karriere ins Stocken gerät oder familiäre Probleme auftauchen, ist es oft nur ein kleiner Schritt, der zu einem Absturz oder einer Erkrankung führt.
Viele sind auch unzufrieden mit ihrem Job und durch den sich permanent erhöhenden Anforderungsdruck Burnout-gefährdet. Denn das Rad dreht sich immer schneller. Wir stehen erst am Anfang der vierten industriellen Revolution: Gekennzeichnet durch Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz, nimmt ein immer agiler und globaler werdender Wettbewerb gerade erst richtig Fahrt auf. Die Folgen sind zunehmende Verunsicherung und die Angst um den eigenen Arbeitsplatz, wenn Produktionsstätten in Billiglohnländer und neue Absatzmärkte verlagert werden, es zu Verschlankung und zu Stellenabbau kommt. Viele bislang sehr erfolgreiche Player werden gezwungen, sich komplett neu zu erfinden. Daher stellt sich für viele Führungskräfte drängender denn je die Frage nach einer Alternative: Würde nicht ein Wechsel in die Selbständigkeit mehr Sinn und Erfüllung bieten?
Nach meiner Erfahrung sind es eher Ausnahmen, vielleicht fünf bis zehn Prozent aller Manager, die irgendwann diesen Weg einschlagen. Dennoch sollte jede Führungskraft, ob in Umbruch-Situationen oder nicht, sich mit ihren Zielen und Möglichkeiten auseinandersetzen und sich nicht zum Opfer der Umstände machen. Selbst, wenn sie darüber »nur« ihre grundsätzlichen Haltungen und Werte hinterfragt und gegebenenfalls ändert, aber weiter im Unternehmen bleibt. Dann aber noch mehr aus der Überzeugung heraus, derzeit dort am richtigen Platz zu sein. Auch dafür gibt es einige Beispiele in den folgenden Kapiteln.
Grundsätzlich möchte ich mit diesem Buch jeden unterstützen, der sein derzeitiges Leben auf den Prüfstand stellen möchte und überlegt, ihm eine neue Richtung zu geben. Ein sehr persönlicher Prozess, deswegen auch die Du-Anrede in diesem Buch. Das heißt, auch wenn Du sozusagen als Amateur beginnst, der bestimmt nicht alles im Griff hat, und es Mut braucht, die vertraute Corporate Culture hinter sich zu lassen, lautet mein Appell: Trau dich! Nutze die Anregungen dieses Buchs, dich inspirieren zu lassen und frisch zu denken. Nutze die Hilfen, die praktischen Tipps und Erfahrungen anderer. Lass dich von ihren Geschichten begeistern und prüfe, ob du ein »Spurwechsler-Gen« in dir trägst und es ausbauen möchtest. Finde heraus, was Du alternativ machen und mit welcher Strategie Du am besten ins Abenteuer »Spurwechsel« starten kannst. In diesem Buch findest Du nicht nur Mut-Macher, sondern auch Inspirationen und Tools für diesen Schritt, bei dem ich aus verschiedenen Perspektiven auf das Thema blicke.
Die Tipps und Beispiele sollen dich unterstützen, deinen eigenen Weg zu finden. Welcher das sein wird, welcher zu dir und deinem Leben passt, entscheidest Du! Es gibt keinen Königsweg und kein allgemein gültiges Rezept für diesen Prozess. Demzufolge sind alle Übungen, alle Konzepte, Beispiele und Lebensgeschichten nur Anregungen. Auf jeden Fall kannst Du viel von anderen lernen und Dir dadurch einige Umwege und Kosten ersparen.
Wie der französische Schriftsteller und Maler Francis Picabia (1879-1953) so treffend formulierte: »Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.« Und es ist sehr bereichernd, genau dies zu tun und einmal über den Konzern-Tellerrand zu sehen! Ich möchte meine Unabhängigkeit gegen keine Unternehmens-Karriere der Welt mehr eintauschen. Denn sie bietet mir nicht nur viel Freiheit, sondern ich konnte damit auch mein Herzensthema »Bewegung, Kreativität und Natur« in meinen beruflichen Alltag integrieren. Das ist ein großes Geschenk, und die größte Motivation für mich sind die glücklichen Gesichter meiner Kunden, wenn ich sie nach einigen Monaten wieder treffe.
In diesem Sinne wünsche ich Dir Spaß beim Lesen und viel Inspiration für deine weitere berufliche Zukunft, vielleicht sogar als Spurwechsler.
2 Krise = Chance
Während meiner Arbeit an diesem Buch erfahren wir alle am Beispiel der Corona-Infektionswelle, was es bedeutet, in einer Krisensituation zu stecken. Wir fühlen uns ohnmächtig und ängstlich. Wir sind verunsichert durch die veränderte, nicht plan- und kontrollierbare Situation. Doch jede Krise stellt auch eine Chance dar: Sie bringt Neues hervor und zwingt uns, in Bewegung zu kommen. Dieses Potenzial und seine Möglichkeiten möchte ich anhand meiner Erfahrungen und der der über 20 Spurwechsler, die ich für dieses Buch in 2019 und 2020 interviewt habe, zeigen.
Ich kenne die Frustration, die gefühlte Sinnleere und die Zwänge, die in vielen Unternehmen herrschen. Nicht weil diese per se schlecht sind, sondern weil sich die Bedürfnisse der Mitarbeiter im Lauf der Zeit geändert haben. Oft fängt es an ernst zu werden, wenn eine oder beide Seiten das Gefühl hat: »Es passt nicht mehr so richtig.«
Bis es soweit kommt, muss viel geschehen. Und schließlich haben wir alle gutes Sitzfleisch, sprich eine gewisse Trägheit: »Better the devil you know«, drückte ein englischer Kollege mir gegenüber dieses Festhalten an der schon gewohnten Situation so treffend aus. Schließlich ist diese relativ sicher und meist gut bezahlt. Vielen angestellten Managern fehlt auch schlicht die Perspektive, etwas Neues, ganz anderes anzufangen. Und es gibt große Ängste, die wir oft nicht benennen können oder wollen. Angst vor Versagen und Statusverlust etwa.
Wenn Du schon länger diese Gefühle kennst, kannst Du Dir sicher sein: Du bist nicht allein! Die Gallup-Studie zum Mitarbeiterengagement bringt jedes Jahr fast identische Ergebnisse heraus.1 2019 waren nur 15% der deutschen Angestellten emotional engagiert für ihren Arbeitgeber, aber ebenso viele, 16%, aktiv un-engagiert. Das bedeutet im Klartext, dass sie zwar körperlich anwesend sind, aber geistig nicht. Sie lassen Kollegen ihre Unlust spüren, und arbeiten schon mal aktiv gegen die Interessen des Arbeitgebers. Und der große Rest mit 69%? Die machen eben ihren Job, »Dienst nach Vorschrift« könnte man es auch nennen. Das ist schon irgendwie okay, aber eben nur irgendwie. Wenn man sich in den Tiefen einer Bürokratie verkriechen kann, wenn Vorgesetzter oder Arbeitgeber nicht zu anspruchsvoll sind, und wenn man selbst sich von weiteren Berufszielen verabschiedet hat. Wenn es keine Leidenschaft für die beruflichen Aufgaben mehr gibt.
Allerdings gibt es drei Probleme für die »weniger Engagierten«:
1 Unternehmen und die Leistungen der Mitarbeiter werden immer transparenter. Wenn man transparenter wird und die Leistung immer mehr messbar, wird es immer schwerer, sich zu verstecken und in der Masse mitzuschwimmen.
2 Durch die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung fallen einfache, sich wiederholende Aufgaben als Erstes weg. Dabei reden wir nicht nur von