»Wenn also der Hauptkassierer drunten im Tresorraum schon da war, dann hätte es doch gar keiner weiteren Person mehr bedurft«, meinte der andere Ermittler ruhig. »War es denn notwendig und sinnvoll, noch jemanden einzuweihen?«
Lackner sah sich zu einer Antwort genötigt: »Es ist unüblich, dass Herr Seifritz die Schecks für die LZB unterschreibt. Das wäre dort vermutlich gleich aufgefallen.«
Lackner fühlte sich plötzlich unwohl und in die Enge getrieben. Ihn überkam eine undefinierbare Angst. Aber die Fragen der Kriminalisten hörten sich so an, als zweifelten sie an seinen Schilderungen und damit an seiner Integrität. Oder war es die stundenlange Nervenanspannung, die ihn nun so dünnhäutig machte?
»Und dann sind Sie mit den beiden mitgegangen«, stellte der Kripochef sachlich fest.
»Mitgegangen ist wohl das falsche Wort«, entgegnete Lackner. »Vergessen Sie nicht: Die waren bewaffnet und haben immer wieder gedroht, sie würden das Mädchen umbringen. Hätte ich mich da zur Wehr setzen sollen?«
Seifritz verdeutlichte: »Herr Lackner hat absolut korrekt gehandelt, meine Herren.«
Der Soko-Leiter nickte verständnisvoll. »Sie haben gesagt, Sie hätten den Eindruck, zumindest einer der Täter sei mit den bankinternen Abläufen vertraut und habe vielleicht sogar Kenntnisse der räumlichen Verhältnisse hier im Gebäude.«
»Ja, den Eindruck hatte ich«, bestätigte Seifritz. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gelassen und selbstsicher die vorgegangen sind. Dazu noch erstaunlich höflich. Die haben uns nie geduzt, immer nur gesiezt. Auch mal ›danke‹ und ›bitte‹ gesagt.«
»Also gepflegte Umgangsformen«, konstatierte der junge Kommissar Biegert.
Über Seifritz’ Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. »Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man sagen: ›Die Gentlemen bitten zur Kasse‹. Wie die Posträuber vor 20 Jahren in England.«
Soko-Leiter Zeller, ein dynamischer Mittdreißiger mit korrektem Haarschnitt, ging auf diese flachsige Bemerkung nicht ein, sondern stellte mit einem Seitenblick auf Biegert klar: »Die Spurensicherung wird sich Ihrer Wohnung annehmen. Außerdem sollten Sie und Ihre Tochter eine möglichst genaue Personenbeschreibung der Täter abgeben. Wir werden versuchen, Phantombilder anzufertigen. Für die Öffentlichkeitsfahndung.«
»Sie wollen an die Öffentlichkeit gehen?«, entfuhr es Seifritz, der es gewohnt war, über sein Geldinstitut nur positive Meldungen verbreiten zu lassen, musste sich aber sofort eingestehen, dass es keinen Sinn machte, auf die Pressearbeit der Polizei Einfluss zu nehmen. Trotzdem sollte versucht werden, die internen Abläufe und die Art und Weise, wie die Gangster an die 2,7 Millionen D-Mark gekommen waren, nur oberflächlich zu schildern. Gleichzeitig musste er an die örtliche Zeitung denken – vor allem, dass ihn Walser vor zwei Journalisten gewarnt hatte, die vermutlich nicht lockerlassen würden, bis sie jedes Detail zu diesem großen Verbrechen ihren Lesern schildern konnten: der junge, engagierte Georg Sander und der stellvertretende Redaktionsleiter Manfred Grüninger, ein Journalist der alten Schule. Denen würde man kein X für ein U vormachen können.
17
Am späten Nachmittag war eine 30-köpfige Sonderkommission komplett, federführend durch die Landespolizeidirektion Stuttgart 1. Spurensicherer untersuchten jeden Quadratzentimeter von Seifritz’ Wohnung, mehrere Beamte ließen sich noch einmal von dem Bankdirektor, seiner Tochter, den beiden Angestellten Rilke und Lackner sowie der Chefsekretärin detailgenau deren Eindrücke und Beobachtungen schildern. Auch die beiden Geldboten wurden mit einbezogen.
Bereits gegen 13 Uhr war auch der Mercedes des Bankdirektors gefunden: bei der Göppinger Feuerwache, nur etwa 150 Meter von der Stelle entfernt, wo Lackner hatte aussteigen dürfen. In dem Fahrzeug, das am Rande einer innerstädtischen Nebenstraße stand, lag eine Polizeimütze.
»Auch das ist doch ziemlich kaltblütig«, kommentierte dies Hartmut Zeller, seines Zeichens Leiter des Dezernats Sonderfälle bei der Landespolizeidirektion Stuttgart 1. »Die steigen am helllichten Tag aus dem Mercedes und verschwinden wohl mit einem anderen Auto.«
»Vielleicht war dort jenes Fahrzeug abgestellt, mit dem am frühen Morgen die Marion nach Schorndorf gebracht wurde«, meinte einer aus der Ermittlerrunde, die mehrere Räume der Polizeidirektion Göppingen in Beschlag genommen hatte – zum Leidwesen des örtlichen Kripochefs Karl Geiger, der diese Aufgabe gerne selbst übernommen hätte, sie jedoch angesichts der Tragweite des Falles an die Experten aus der Landeshauptstadt hatte abgeben müssen. Immerhin sah alles danach aus, dass man es mit professionellen Tätern zu tun hatte, die möglicherweise auch schon landesweit ihr Unwesen getrieben hatten. Nichts also für eine provinzielle Polizeidienststelle.
Ein anderer Kriminalist, der auch aus Stuttgart angereist war, gab zu bedenken: »Wenn es sich bei dem weiteren Fluchtfahrzeug um jenes handelt, mit dem Marion heute früh verschleppt wurde, dann müsste es der Täter bei der Rückkehr von Schorndorf hier bei der Feuerwache abgestellt haben und dann zu Fuß zum Hause Seifritz gegangen sein. Das wären – wenn ich das richtig aus dem Stadtplan rausgemessen habe – rund 1,6 Kilometer, auf normalem Weg wahrscheinlich etwa zwei Kilometer. Dafür braucht man bei flottem Schritt schätzungsweise 25 Minuten.«
Soko-Chef Zeller fuhr sich durchs füllige Haar, nickte anerkennend und blätterte in seinen Unterlagen. »Kann hinkommen. Die Marion wurde gegen 4 Uhr mit einer größeren Limousine, vermutlich einem Audi, nach Schorndorf gebracht, und eineinhalb Stunden später war der Täter wieder in der Wohnung Seifritz zurück. Das passt.« Zeller überlegte kurz. »Bis Schorndorf braucht er in den verkehrsarmen Morgenstunden keine halbe Stunde. Hin und zurück also nicht mal eine ganze Stunde. Er stellt den Fluchtwagen, mit dem die Täter ja auch angereist sein mussten, bei der Feuerwache ab und geht zu Fuß in die Wohnung Seifritz, knapp eine halbe Stunde. Dann ist er gegen 5.30 Uhr wieder dort. Genau, wie Seifritz es sagt.«
»Aber warum stellt er das Auto ausgerechnet bei der Feuerwache ab? Macht das Sinn?«, warf ein anderer Ermittler ein. »Außerdem war er als Polizist verkleidet. Mit dieser Maskerade muss er dann quer durch die City bis zur Nordstadt gehen.«
»Es war dunkel«, gab ein älterer Beamter zu bedenken. »Und wer wird schon misstrauisch, wenn er einem Uniformierten begegnet? Außerdem muss das Auto ja nicht zwangsläufig dort abgestellt gewesen sein, wo sie den Mercedes zurückgelassen haben.«
Zeller sah in die Runde. »Irgendwie kommt mir das alles komisch vor.«
»Sie haben Zweifel an den Schilderungen zum Tatablauf?«, fragte jemand, worauf sich in dem Saal eine plötzliche Stille breitmachte.
»Nein, nicht wirklich. Nein«, ruderte Zeller zurück. »Wichtig ist, dass wir mit großer Sorgfalt an die Sache herangehen. Denn die Arbeitsweise der Täter erscheint doch zumindest ziemlich seltsam zu sein. Um es mal vorsichtig auszudrücken.«
»Weiß man denn, wem das Gartenhaus gehört, in dem Marion festgehalten wurde?«, wollte ein junger Kriminalist wissen, der ein deutliches Stuttgarter Honoratiorenschwäbisch sprach.
»Ja«, erwiderte Zeller und sah wieder auf seine Unterlagen. »Es gehört einem Professor aus Schorndorf, der das kleine Wochenendhaus aber schon lange nicht mehr benutzt hat.«
»Marion war dort eingeschlossen? Sie ist durchs Fenster rausgestiegen?«
»Es gab kein richtiges Schloss. Aber der Täter hat die Tür mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Alles ziemlich merkwürdig«, räumte Zeller ein und fügte grinsend an: »Und bevor noch jemand von Ihnen auf eine andere Merkwürdigkeit stößt, will ich’s gleich sagen: Ich bin ein Göppinger, und der Herr Lackner ist mein Nachbar.«
Zeller konnte zu diesem Zeitpunkt freilich nicht ahnen, dass es noch weitaus mehr Merkwürdigkeiten und seltsame Zusammenhänge geben würde.
18
Die Pressekonferenz am Spätnachmittag hatte tatsächlich einige auswärtige Journalisten in einen Saal der Polizeidirektion Göppingen