Sander, als Lokaljournalist auch fürs Kriminelle und die Justiz zuständig, bohrte gleich in diesen frühen Vormittagsstunden nach, stieß jedoch bei Staatsanwaltschaft und Polizei auf eine Mauer des Schweigens. Der neue Pressesprecher der Göppinger Polizeidirektion musste ehrlicherweise und zerknirscht eingestehen, dass auch er von den Ermittlern aus Stuttgart nicht ausreichend informiert wurde. Sander musste deshalb rasch erkennen, dass auch seine guten Kontakte in Polizeikreise zu keinen weiteren Informationen führten. Am meisten ärgerte ihn, dass er am gestrigen Vormittag zwar im Göppinger Polizeirevier gewesen war, aber nichts von dem Großeinsatz mitbekommen hatte, der sich zu dieser Zeit gerade anbahnte.
Sein an Dienstjahren und Erfahrung älterer Kollege Manfred Grüninger, um die 50, ein bodenständiger Journalist, der sein Handwerk verstand wie kaum ein anderer, durfte mit Fug und Recht als investigativer Journalist bezeichnet werden, obwohl dieser Begriff damals noch nicht geläufig war. Grüninger fühlte sich von den dürren Worten einer Pressemitteilung der zuständigen Staatsanwaltschaft Stuttgart richtiggehend angespornt, den Ablauf des Kidnappings detailgenauer zu recherchieren.
Grüninger, der alte Fuchs, brachte jetzt sogar das Kunststück fertig, den Bankchef zu einem Interview zu überreden. Auch im Hinblick darauf, etwaigen Verschwörungstheorien vorzubeugen, so hatte der Journalist sein Ansinnen begründet. Denn der geradezu filmreife Fall heizte bereits seit gestern Abend die Gerüchteküche kräftig an. Außerdem war wohl von offizieller Seite einiges verschleiert und nebulos dargestellt worden.
Am frühen Nachmittag saßen Grüninger und Sander im Büro von Seifritz. Noch auf der Herfahrt hatten sich die beiden Journalisten über die Vorgehensweise abgestimmt: möglichst einfühlsam, nicht allzu direkt, aber doch mit dem Wunsch, etwas mehr Einzelheiten zu erfahren, sprich: Persönliches.
Seifritz ließ Kaffee bringen und zeigte sich gegenüber den Fragen aufgeschlossen. Er wirkte zwar blass und erschöpft, schien jedoch den Ablauf des Überfalls sachlich und nahezu emotionslos schildern zu können. »Ich bin froh, dass alles ohne Menschenopfer vorübergegangen ist«, sagte er schließlich.« Und fügte an: »Aber für meine Tochter war es ganz schlimm.«
Groß sei seine Sorge auch gewesen, weil die Gangster gedroht hatten, es werde im Schalterraum ein Blutbad geben, falls sie nicht mit dem Geld sicher aus dem Gebäude wieder herauskämen. Sie hätten erklärt, es würden in den Morgenstunden Personen mit Handtaschen auftauchen, in denen Bomben und Granaten versteckt seien. Außerdem hätten sie behauptet, im Auftrag einer Organisation zu handeln.
Und auf die Frage von Sander, wie er denn diese Stunden der Ungewissheit nervlich überstanden habe, wurde er für einen Moment nachdenklich und sagte: »Das wird sich erst zeigen. Dass ein solcher Vorgang nicht an den Kleidern hängen bleibt, ist klar.«
Was jedoch die Übergabe des Geldes anbelangte, also das Geschehen im dritten Untergeschoss, blieb Seifritz wortkarg, flüchtete sich in allgemeine Formulierungen und erklärte, dass es sich um bankinterne Abläufe handle. Allerdings zeigte er sich davon überzeugt, dass zumindest einer der Täter sehr gute Bankkenntnisse haben müsse und offensichtlich auch mit dem Gebäude vertraut sei.
Grüninger riskierte eine Feststellung: »Demnach könnte es durchaus sein, dass der Täter aus dem Hause stammt?«
Seifritz atmete tief durch.
20
Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren. Mehrere Beamte waren mit den ausführlichen Vernehmungen befasst – nicht nur mit Seifritz und Tochter Marion, sondern auch mit Heinrich Lackner und dessen Kollegen Berthold Rilke sowie der Chefsekretärin Karin Rüger. Der Kreis weitete sich aus: auf die Geldboten, die zwischen Kreissparkasse und Landeszentralbank unterwegs gewesen waren, sowie auf den völlig ahnungslosen Kassierer, der zum Geschäftsbeginn 30.000 D-Mark geholt hatte, ohne zu wissen, dass in einem Nebenraum Gangster lauerten.
Immer stärker fühlte sich Heinrich Lackner in die Enge getrieben. Gebetsmühlenartig wiederholten sich Fragen, weshalb man ausgerechnet ihn zum Unterschreiben des Millionenschecks gezwungen haben könnte. Und warum sich die Gangster für ihn als die zweite Geisel entschieden hätten. Bisweilen befürchtete Lackner, die Ermittlungen richteten sich nur gegen ihn. Alles an ihm schien plötzlich verdächtig zu sein: dass er am Montagmorgen so früh zur Arbeit gekommen war und dass er scheinbar bereitwillig im Chefbüro den Scheck unterschrieben habe. Sogar die Art und Weise, wie er reagiert hatte, als sich die Aufzugstür nicht hatte öffnen lasse, schien den Argwohn der Ermittler zu wecken. »Was hätte ich denn anderes tun sollen? Ich hatte doch keine Wahl«, hatte er schon viele Male wiederholt und dabei fast seine gelassene Art verloren. Irgendwann kam auch er an die Grenze seiner nervlichen Kraft.
Doch so wie ihm erging es auch all den anderen, die als Zeugen in den Ermittlungsakten geführt wurden. Sogar jener Geldbote, ein 29-jähriger Mann, der als ausgebildeter Polizist voriges Jahr aus gesundheitlichen Gründen nicht ins Beamtentum übernommen worden war und sich kurz mit dem uniformierten Gangster angelegt hatte, geriet ins Visier der Kriminalisten. Wolfgang Nolte war seit einigen Monaten als Geldbote beschäftigt. Ein spannender Job, aber keinesfalls so abwechslungsreich, wie es der Dienst bei der Polizei gewesen wäre. Eigentlich hätte ihm die Arbeit als Privatdetektiv viel mehr Spaß gemacht, zumal er damit das bei der Polizei Erlernte viel besser hätte anwenden können. Aber um sich selbstständig zu machen, fehlte ihm der unternehmerische Mut. Vielleicht würde es ja mal gelingen, bei einer entsprechenden Kanzlei eine Anstellung zu finden. Schließlich gab es mehr Detekteien, als man vermutete.
»Und Sie haben, genau wie Ihr Kollege, heute früh anfangs nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmte?«, wollte ein erfahrener älterer Beamter wissen, während Nolte ihm im Büro gegenübersaß.
»Nein. Erst als wir das zweite Mal zur LZB gerufen und wieder zurückgekommen sind und ich durch die Scheibe des Tresorraums diesen uniformierten Typen gesehen habe, hatte ich sofort ein komisches Gefühl«, wiederholte Nolte bereits zum dritten Mal. Seine Lippen bebten, der Oberlippenbart vibrierte. Er wich keinem Blick des Kriminalisten aus. »Außerdem«, fügte er an, »waren zwei Millionen eine ganze Menge Kohle für einen Montag.«
»Haben Sie denn noch eine Polizeiuniform daheim?«, blieb der Kriminalist hartnäckig.
»Oh, daher weht der Wind«, wurde Nolte jetzt ungehalten. »Sie meinen, ich hätte dem Täter meine Uniform ausgeliehen? Und nur vorgetäuscht, ihn angreifen zu wollen? Da muss ich Sie enttäuschen. Ich besitze gar keine Uniform mehr.«
»Aber Sie haben sie doch kaufen müssen, diese Dienstkleidung.«
»Ja, natürlich. Für einen Berufsanfänger eine teure Anschaffung. Insgesamt rund 1.000 Mark. Aber Sie wissen dann sicher auch, dass man beim Ausscheiden aus dem Dienst die Dienstgrad- und Hoheitsabzeichen entfernen muss.«
Der Kriminalist wollte dies nicht vertiefen, weil er sich nie mit den einschlägigen Bestimmungen befasst hatte. »Und wo ist die Uniform jetzt?«
Nolte holte tief Luft. »Verschenkt hab ich sie. Dem Kleiderfundus des Naturtheaters Heidenheim.«
»Auch den Anorak?«
»Ich hatte nie einen Anorak. Nur die Uniformjacke. Tut mir leid.«
21
Die Staatsanwaltschaft schwieg, und auch Kripochef Karl Geiger hatte einen Maulkorb verpasst bekommen. Außerdem gab’s von der Stuttgarter Pressestelle weiterhin nur spärliche Informationen. Zum Leidwesen von Sander und Grüninger. Denn für die Journalisten war es völlig unbefriedigend, beim größten Bankraub weit und breit nicht auf dem Laufenden gehalten zu werden. Gab es tatsächlich etwas zu vertuschen, wie Volkes Meinung befürchten ließ? »Ich versteh das nicht«, grummelte Grüninger nach einigen Tagen. »Die machen doch mit ihrer Geheimnistuerei alles viel schlimmer.«
Sander, der zu Grüninger ins Büro gekommen war und am lilafarbenen Verpackungspapier sah, dass der Vize-Redaktionschef heute schon wieder eine ganze Tafel Vollmilchschokolade verschlungen hatte, stimmte ihm zu: »Entweder,