Silbão hatte den Kopf auf die Knie gelegt und die Hände über die Ohren gepresst. Dshirah starrte entsetzt auf die schwarzen Locken, die durch seine Finger quollen. Er musste ihr noch so viel erklären, und er brachte kein Wort mehr heraus. Da schlug die Angst wie schwere Pauken in ihrem Kopf und übertönte die Flöte.
«Silbão!» Sie packte und schüttelte ihn. «Was soll ich tun da drin? Und wie, wie komme ich wieder raus?»
Er blickte auf. Sein Gesicht schien zerstört, schief hing sein Mund und die Augen wirkten blöde. Sie schüttelte ihn. Aber es hatte keinen Sinn. Es sah aus, als ob dieser Junge noch niemals hätte sprechen können.
«Wo finde ich deine Schwester?»
Er zeigte nach Nordosten. Auch sein Arm zitterte. Da kamen die Pferde.
Man hörte sie kaum. Der Boden war sandig. Ihre unbeschlagenen Hufe machten fast kein Geräusch. Und immer wenn Januão spielte, wurden ihre Körper leicht wie Federbälle. Nur zögernd lösten sich die gelben Leiber der Stuten wie große goldene Tropfen aus der Sonne und flossen weiter über die Ebene. Dshirah konnte Je-ledla nicht mehr erkennen, denn es gab keine einzelnen Pferde mehr. Sie waren eine schwebende Schar von Wesen, die vielleicht von einem anderen Stern auf die Erde gefallen waren. Eine alte Geschichte erzählte, so seien Pferde entstanden.
Die Paukenschläge! Die trommelnde Angst! Das Einzige, was Dshirah retten konnte, war die laut lärmende Panik in ihrem Kopf. Wenn sie hier weiter lauschte und schaute, kam sie niemals nach En-Wlowa. Aber die Pauke war nur noch ein sanftes, tiefes Beben im Bauch, über dem hoch in der Luft Januãos Flöte schwebte. Auch Silbão neben ihr hatte wieder sein schönes Gesicht, nicht jedoch seine Sprache gefunden. Vier der Wächter hielten ihre tobenden Pferde am Zügel. Zwei waren aufgesessen, hatten aber die Speere verloren, ihre Pferde mischten sich unter die Sorraia-Stuten, weiße Flecken im gelben Fluss und darüber das Rot der Uniform. Von der anderen Seite des Hügels schrien die beiden gefesselten Reitpferde, im Osten ein einzelner Reiter. Die Musik wurde lauter.
Da sagte, klar und deutlich, Silbão ein einziges Wort: «Jetzt!»
Das war ein Befehl.
Dshirah sprang hinter dem Strauch hervor und stürzte den Hügel hinunter. Niemand würde sie sehen. Nicht ein einziger Blick ging in ihre Richtung. Und auch sie sah nichts mehr. Und hörte die Flöte nicht mehr. Die Angstpauken waren wieder laut und lärmend, und alles, was sie spürte, war der Schmerz im rechten Fuß, mit dem sie zu lange barfuß gelaufen war. Sie jagte über die Ebene. Ein gesatteltes Pferd galoppierte an ihr vorbei. Es hatte seinen Reiter abgeworfen. Sie sah einen großen roten Fleck reglos auf dem von Hufen zertrampelten Boden liegen. Ein Bündel Lumpen rannte ihr entgegen. Als sie aneinander vorbeiliefen, traf sie ein verwunderter Blick aus einem knochigen, schmutzigen, jungen Gesicht. Sie erreichte die Blumenmauer und schlüpfte unter den Blütenvorhang. Sie lehnte sich an die Mauer und schloss die Augen. Sie sah und hörte nichts mehr. Da war nur noch der Duft der Blumen, schwer, betäubend, wie starkes Parfüm.
Hinter der Blumenmauer
Dshirah saß und rührte sich nicht. Sie tat nichts als atmen, das war mühsam genug. Die Luft fühlte sich an, als hätte der schwere Duft der Blumen sie in einen zähen, klebrigen Brei verwandelt. Die Augen hatte sie geschlossen, denn da war ein unangenehmes Kitzeln auf ihren Augenlidern. Sie öffnete den Mund, weil sie durch die Nase nicht genügend Luft bekam. Es krabbelte auf ihren Lippen, sie atmete etwas ein, musste husten, schlug die Augen auf, da krochen ihr Fliegen in die Augen, sie schlug die Hände aufs Gesicht, vertrieb und zerdrückte Fliegen. Fort, nur fort, hier konnte sie nicht bleiben. Und sie sprang aus der Blumenmauer zurück in die Ebene.
Niemand sah sie, denn noch immer spielte ihr Bruder. Sie entfernte sich ein paar Schritte von der Blumenmauer, bis sie die Luft wieder atmen konnte. Auch die Fliegen blieben zurück. Nun hörte sie wieder Januãos Flöte und sah die Pferde nach Osten laufen. Das machte sie so traurig, dass ihr Herz klein wurde wie eine getrocknete Weinbeere. Sie stand mit hängenden Armen und vergaß, dass sie fliehen musste.
«Wenn du traurig bist», sagte ihre Mutter immer, «wird dein Herz so klein wie eine getrocknete Weinbeere.»
Und dann nahm sie meist eine trockene Weinbeere aus dem weißen Leinensack, die legte sie in eine Schale mit Honigwasser, und Dshirah durfte vor der Schale sitzen und zuschauen, wie die Weinbeere wieder groß und rund und prall wurde. Wenn sie die süße Kugel dann essen durfte, war sie nicht mehr traurig, schon lange nicht mehr.
Gab es Honigwasser in En-Wlowa? In Tränen getaucht konnte ihr verschrumpeltes Weinbeerenherz nur ein bitterer Trost werden. Und sie sollte hier nicht stehen mit hängenden Armen und hängendem Kopf. Sie sollte fliehen! Fliehen! Aber Januão spielte noch immer.
Würde es in Afrika Weinbeeren geben? Sie wusste nicht viel von Afrika. Sie wusste von Afrika nicht viel mehr, als dass es weit weit fort war von Zaiira. Und da waren die letzten Töne von Januãos Lied. Sie öffnete den Mund, um die verklingende Melodie einzuatmen, mitzunehmen – die konnte sie doch nicht auch noch verlieren –, aber das Lied verklang, es ließ keinen Rest in der Luft, nicht einmal Spuren im Sand. Drüben auf dem Hügel sah sie die magere Lumpengestalt im Gestrüpp verschwinden und Silbão sah sie, der wild mit den Armen winkte. Sie musste zurück in den schrecklichen Duft der Blumen und zu den Fliegen, in wenigen Herzschlägen würde der Zauber von Januãos Musik zerfallen. Aus dem Staub erhob sich die rote Uniform des gestürzten Wächters. Er taumelte halb bewusstlos, schien aber nicht schwer verletzt. Dshirah lief ein paar Schritte an den Blumen entlang weiter nach Westen. Vielleicht war es dort besser. Vielleicht war sie da näher an dem Loch in der Mauer. Und sie stürzte sich, Augen und Mund geschlossen, in die bunten Blüten. Sie drückte sich gegen die Mauer, hielt die Hände über den Mund, atmete durch schmale Schlitze zwischen ihren Fingern. Ihr Kopf wurde schwer, ihre Hände und Füße auch. Mit jedem Atemzug wurde sie müder. Sie hörte auf zu atmen, aber das ging nicht, nicht so lange, bis sie das Loch in der Mauer gefunden hatte. Sie schnappte nach Luft, nach der duftschweren, breiigen Luft, sie fühlte sich wie ein Stein, ihre Hände tasteten an der Mauer entlang, aber sie spürte kaum noch einen Unterschied zwischen ihren Fingern und dem Stein. Und Fliegen, Fliegen überall. Sie konnte die Augen nicht öffnen, sie sah dann auch nicht mehr, nur Fliegen, Fliegen überall. Sie sah und fühlte nichts mehr, sie konnte auch nichts riechen, ihr Geruchssinn war erschlagen von dem Duft der Blumen. Da versuchte sie zu hören, versuchte die allerletzten Reste von Januãos Lied aus der Luft herauszulauschen, aber das war längst verklungen. Stattdessen hörte sie tief in ihrem Innern die Stimme ihrer Mutter. Die hatte ihr einmal erzählt, es gebe Blumen, die seien so bunt und so schön, dass sie jeden zum Tanzen fröhlich machten, aber sie dufteten jeden zu Tode, der zu lang aus ihnen atmete. Sie hatte Angst, sie fiel, sie stürzte in die Mauer und in einen anderen Geruch.
Verfaultes und Faulendes stank und mischte sich mit dem Blumenparfüm. Sie blinzelte durch halb geöffnete Augen. Sie saß mitten in der Mauer. Die war so breit wie die Kruppe von zwei Arbeitspferden. Auf Händen und Knien kroch sie nach En-Wlowa. Die harten Steine schürften ihr die Haut auf. Das machte sie wach genug, durch den lähmenden Duft in den Dreck des Lagers zu krabbeln. Sie war in Sicherheit, in einer stinkenden, dreckigen, engen Sicherheit. Sie kroch weiter fort von den Blumen, von den Fliegen. Sie setzte sich auf den Boden, öffnete die Augen und den Mund. Sie konnte wieder atmen. Das hier war nur Gestank.
Über ihr schwankten schmutzige magere Gesichter mit lächelndem Mund und glücklichen Augen, aus denen ganz langsam wie zäh fließender Honig das Glück hinausfloss. Solche Blicke kannte Dshirah. Verzweifelte Menschen, die Januãos Musik gehört hatten, behielten noch viele Herzschläge lang die Freude in den Augen. Auch die Gefangenen hatten sein Spiel gehört,