Aber sie ritt um das Haus herum und mied den Eingang.
Elf. Elf Polizeioffiziere im Haus ihrer Eltern? Manchmal kam einer, um die Fohlen des letzten Jahres zu prüfen, denn die Polizei ritt immer Halbblüter, deren Mütter halbwilde Sorraia-Stuten waren und der Vater ein Vollbluthengst aus dem Stall des Kalifen. Aber elf ! Was konnte so wichtig sein, dass die auf einmal zu einem Pferdehirten kamen? Und elf war eine Zahl, die im ganzen Land gemieden wurde. Die Lieblingszahl des Kalifen war zwölf. Am Steg, dachte sie, der zwölfte Reiter steht am Steg.
Sie sprang vom Pferd. Run, Lont und Moia kamen ihr entgegen, die drei Hirtenhunde ihrer Familie, groß, gelb, mit langem, feinem Haar und mit einer schwarzen Maske im Gesicht, auch Beine und Schwanzspitze waren schwarz. Nur die Pferdehirten hatten solche Hunde, die eigentlich Windhunde waren aus dem Zwinger des Kalifen für die Jagd. Alle drei kamen lautlos, still – kein Bellen, kein Fiepen, kein wildes Begrüßen wie sonst, wenn sie Dshirah sahen. Run, die Jüngste, wedelte heftig mit dem Schwanz und hechelte, die anderen taten nicht einmal das. Also hatten ihr Bruder oder ihre Mutter oder ihr Vater den Befehl: «Still allem!!!», gesprochen. Die Hunde waren so gut erzogen wie die Pferde der Polizeioffiziere. Run leckte Dshirahs Hand und konnte gar nicht damit aufhören. Dshirah streichelte sie und band Dshallalalama an der Rückseite des Hauses an. Sie stieg durchs Fenster in das Zimmer, das sie sich mit ihrem Bruder teilte – und schaute in Silbãos dunkle, vor Schreck und Angst so weit aufgerissene Augen, dass sogar dieses Gesicht nur noch verzerrt und gar nicht mehr schön war.
Flucht ins Gefängnis
Silbão legte eine Hand auf seinen halb offenen Mund und stellte sich vor die Tür, die zum Patio führte. Er schaute auf Dshirahs Füße. Die Sandalen verdeckten die äußeren Zehen, ließen die mittleren frei, und nur wer genau hinsah, konnte erkennen, dass es hier nicht drei, sondern vier mittlere gab. Silbãos Hand fiel herunter.
«Es ist wahr», hauchte er.
Dshirah schluckte.
«Wie – wie hast du es gemerkt?»
«Du musst fliehen», sagte er. «Sofort! Sie sind schon da. Sie dürfen es nicht sehen. Nie! Dann haben sie keinen Beweis.»
Dshirahs Herz überschlug sich. Es verlor den Takt, der in Zaiiras Hand gepocht hatte. Wer hatte sie verraten? Wer? Die Jungen! Es mussten die Jungen gewesen sein. Sie hatten es also doch gesehen. Bevor sie die Gefahr spürte, die jetzt ihrem Leben drohte, hatte sie Angst, ihr Glück zu verlieren, das Glück, das Zaiira hieß.
Nein!, dachte sie. Zaiira war es nicht. Die Zeit war ja auch viel zu kurz. Nein!
Der Gedanke beruhigte sie und sie konnte fragen: «Was ist geschehen?»
«Du bist über die Baustelle gelaufen. Du bist auf den Sand getreten. Mit dem – dem Fuß da. Die Arbeiter haben geschimpft. Und als sie deinen Fußabdruck wegharken wollten, haben sie es gesehen. Kirr hat verraten, wer du bist.»
Kirr! Ein Barde wie sie!
«Ich bin dir weiter nachgelaufen», fuhr Silbão fort. «Ich wollte dich warnen. Ich glaube nicht, dass so eine Spur im Sand ein Beweis ist. Du musst weg. Wenn sie dich nie sehen … aber ich weiß nicht, wohin? Weißt du wohin?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Der Kalif wird dich suchen lassen. Überall. Es gibt keinen Ort, wo er nicht suchen wird, wir müssen Januão fragen. Der ist klug. Ich bin nicht so klug.»
«Wo ist er?»
«Was? Was sagst du?»
Silbão konnte sie nicht mehr verstehen. Die Angst hatte angefangen, ihre Stimme zu zernagen. Sie schluckte.
«Wo ist er?»
«Im Patio. Ich glaube, ich kann ihn holen.»
Er öffnete die Tür einen Spalt. Geschützt vom Dunkel des Raumes blickte sie in den Hof und sah ihre Eltern an dem kleinen Brunnen sitzen. Das Gesicht der Mutter war so weiß wie der gekalkte Brunnenrand. Der Vater wandte ihr den Rücken zu. In dem kleinen Patio saßen die Polizeioffiziere, sie rauchten oder aßen Trauben, sie tranken Tee, sonst taten sie nichts. Sie warteten. Januão sah Dshirah nicht. Aber Silbão schien zu wissen, wo er war. Er schlüpfte durch den Türspalt und kam gleich darauf mit dem Freund zurück.
Die Geschwister schauten sich an.
Wie die sich anschauen konnten, die zwei! Es gab vielleicht im gesamten araminischen Reich keinen anderen Menschen, dem Dshirah oder Januão so gerade, so geradewegs in die Augen schauen konnten. Ihre Blicke passten zusammen. Sie hatten beide die gleichen weit auseinanderstehenden Augen. Es war, als seien ihre Augen nach außen gerutscht, an den Rand des breiten Gesichts, an die äußerste Grenze des menschlichen raubtierähnlichen Blicks. Ein wenig mehr noch und die Augen wären an der Seite gelandet, wie bei Pferden und Rindern und Hirschen, wie bei allen Tieren, die nicht jagen, sondern gejagt werden. Und zwischen den Augen war reichlich Platz für das strähnige helle farblose Haar, das ihnen von der Stirn fiel.
Manchmal aber brach Januão aus dem Geschwisterblick. Wenn er lautlos, tief im Innern, ein neues Lied sang, das er für sich und die Pferde spielen würde, dann verloren seine Augen jeden Blick. Er lief dann gegen den Tisch oder die Truhe oder die Tür, und seine Mutter Chomina musste ihm immer wieder sagen: «Vergiss das Schauen nicht. Verlern es nicht. Sonst wirst du noch blind.»
Januão war ein Jahr älter als seine Schwester, aber nicht größer, weil er so sehr kurze Beine hatte.
«Dir ist etwas eingefallen?», fragte Silbão. «Du weißt, wo wir sie hinbringen können?»
Januão nickte.
«En-Wlowa», sagte er, und Silbão wurde blass.
«Da geht niemand freiwillig hin.»
Januão zuckte die Achseln.
«Ich weiß kein anderes Versteck.»
«A-a-aber», wenn Silbão aufgeregt war, fing er immer an zu stottern, «aber ist es nicht besser, sie geht zu dem Kalifen? Du kannst so gute Geschichten erzählen. Warum erfindest du nicht die Siebte Sage?»
«Das haben schon viele versucht, aber noch nie haben die Richter und die Gelehrten so eine Geschichte als Siebte Sage anerkannt. Alle warten auf etwas – keine Ahnung auf was, ja, sie warten auf etwas, das sie nicht erwartet haben.»
Der Gedanke an En-Wlowa hatte Dshirah nur wenig erschreckt.
«Muss ich da lange bleiben?», fragte sie. «Ich kenne da niemanden.»
«Du musst bleiben, bis sie dich hier nicht mehr überall suchen. Dann hole ich dich und bringe dich übers Meer. Die Eltern kommen nach. Wir gehen alle nach Afrika. Die Mutter hat immer gewusst, dass dies eines Tages geschieht.»
Da erst erschrak auch Dshirah. Sehr!
«En-Wlowa», murmelte Silbão. «Oh, es ist schlimm. Wir kriegen sie rein, aber nie wieder raus.»
«Wir kriegen sie genauso raus, wie wir es immer mit dir gemacht haben», sagte Januão.
Silbão schüttelte heftig den schönen, störrischen Kopf.
«Ich habe immer gewusst, dass du am nächsten Tag um dieselbe Zeit die Pferde vorbeirufst. Wie soll sie das wissen, wenn sie Wochen da drin ist?»
«Indem du hineingehst, Silbão, und es ihr sagst. Wir brauchen dich.»
Dshirah erholte sich nicht von ihrem Schreck. Es war jedoch nicht En-Wlowa, was sie entsetzte. Sie kannte von dem Gefängnis des Landes nur die Blumenmauer. Es war der Gedanke an Afrika, der ihr alle Freude nahm.
«Wir gehen fort?», flüsterte sie.
Und sie dachte an Zaiira. Januão nickte.
«In