Und dann wurde etwas anders.
Es waren zuerst nur Geräusche, die es vorher nicht gegeben hatte. Sie waren außerhalb der Blumenmauer, im Süden, an der Seite zum Hügel, Stimmen, Männerstimmen, sie kamen jeden Tag wieder. Man hörte auch Hämmern und Klopfen. Manche im Lager zeigten so etwas wie Hoffnung oder gar Freude. Sie hatten keinen Grund zur Freude. Aber konnte nicht alles, was ein bisschen anders wurde, etwas besser machen? Viele aber hatten Angst. Una wirkte besorgt.
«Sie machen dort hoffentlich nichts, was Silbão stören könnte», sagte sie. «Er sollte jetzt kommen und dich herausholen.»
«Silbão?» Juja schaute auf und lachte. «Er kommt bald.»
Viele kletterten auf die Dächer, aber sie konnten nicht über die Mauer schauen. Beim Essenholen sprach sich herum, dass eine Frau entschieden hatte, durch das Loch in der Mauer zu kriechen. Sie wollte nicht fliehen. Sie wollte nur, verborgen hinter den Blumen, ein Stück auf die Geräusche zugehen und sehen, was die Männer da machten. Man warnte sie:
«Du wirst ohnmächtig in den Blumen.»
«Die Fliegen bringen dich um.»
Aber sie versuchte es. Am Nachmittag verschwand sie in dem Blumenschleier an der Innenseite. Es war voll am Dorfrand. Una, Juja und Dshirah konnten nicht viel sehen, denn sie standen ganz hinten. Die Frau war bald zurück. Una hob Dshirah hoch, und Dshirah sah die Frau taumeln. Man hörte sie schreien, dann stürzte sie. Dshirah hatte nicht verstanden, was sie geschrien hatte. Sie reckte sich hoch in Unas Armen, versuchte zu sehen, zu hören. Aber da stellte Una sie grob auf die Füße, griff nach ihrer Hand und auch nach Jujas, zog beide fort, hinein ins Dorf. Es war eine Flucht. Aber es war zu spät. Hinter ihnen schrien jetzt die anderen, und die konnte man verstehen. Dshirah zappelte und schrie auch. «Una! Sie haben – sie haben –» Una drückte ihren Kopf fest gegen ihren Hals und flüsterte ihr zu: «Sag es Juja nicht. Sag es wenigstens Juja nicht.»
Es gab kein Loch mehr in der Mauer. Jetzt war Dshirah wirklich im Gefängnis.
Sie konnte nicht schlafen in der Nacht. Una auch nicht. Sie flüsterten miteinander, während Juja lächelte und wahrscheinlich von ihrem Kind träumte. Juja war die Einzige in En- Wlowa, die noch nicht wusste, dass es kein Loch mehr in der Mauer gab.
«Nicht verzweifeln», flüsterte Una Dshirah zu. «Das ist es nicht, was die Männerstimmen da gemacht haben, nicht nur das. Sie haben nicht nur das Loch zugemacht. Wir hören doch die Stimmen an einer anderen Stelle, viel weiter östlich, viel.»
«Und was glaubst du, was sie da machen?», fragte Dshirah.
Sie bekam keine Antwort. Una streichelte über ihren Kopf und fing an zu singen, wie sie Juja oft beruhigte, nur leiser.
Und am nächsten Tag vergaß sie eben dieses Singen.
Es war noch in den Morgenstunden. Da sahen sie, dass an der Südseite außerhalb der Mauer Balken aufgerichtet wurden, die hoch über die Blumen ragten. Dshirahs Blick hing voller Angst und Fragen an Unas Gesicht. Und sie sah in Unas Augen ein unruhiges Flackern. Da waren vielleicht weniger Fragen, aber genauso viel Angst.
«Silbão?», fragte Juja. Sie flüsterte: «Er kommt nicht.» Und sie schrie: «Nie wieder!»
Sie sank in sich zusammen und sang: «Abdalameh, Abdalameh.»
Una starrte auf das Gerüst im Süden, und Jujas Stimme glitt in den Totengesang.
Auf der Mauer stand ein Mann. Er schlug mit einem großen Messer, fast ein Schwert, auf die Blumen ein. Sie fielen hinab nach En-Wlowa, lange Girlanden aus riesigen Blüten. Jujas Lied zerbrach in Schluchzer. Una schwieg noch immer.
Und die anderen? Die vielen anderen? Sie schrien oder lachten oder fluchten oder tanzten oder zitterten – und keiner wusste warum.
An diesem Tag geschah nichts mehr. Sie hatten also noch eine Nacht, voller Grübeln, voller Angst – ohne Schlaf. Und eine kleine, verrückte, vollkommen sinnlose Hoffnung war auch dabei. Dshirah kuschelte sich an Una und träumte, sie läge wieder in den Armen ihrer Mutter.
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