Die Siebte Sage. Christa Ludwig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christa Ludwig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772542701
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wäre am liebsten sofort zurück in den Verschlag gegangen, aber Una bestand darauf, dass sie erst badete.

      «Denn dazu sind wir hergekommen. Das musst du nun auch tun. Sonst denken sie, wir hätten noch ein Geheimnis. Und …», sie lächelte, «wir haben gar keins. Es ist jetzt kein Geheimnis mehr. Nicht zwischen uns.»

      Patschnass war Dshirah nach dem Bad, aber sie trocknete schnell, denn die Wärme kam jetzt nicht nur von außen. In ihr strahlte es warm, als sie an Unas Hand durch die Gassen ging.

      «Wie hast du es gemerkt?», fragte sie. «Und wann?»

      «So nach und nach. Wenn man dich immer um sich hat, merkt man, was du verbirgst. Wenn man gut aufpasst, meine ich. Hab keine Sorge, die anderen wissen es nicht.»

      «Und Juja?»

      «Juja weiß nichts und sollte nichts wissen. Sie ist so lieb, aber man kann niemals vorhersehen, was sie tut. Das bisschen Verstand, das sie noch hatte, als sie kam, hat sie hier gänzlich verloren. Nun sag, wie es weitergehen soll mit dir. Du hältst dich hier verborgen, weil der Kalif dich suchen lässt?»

      «Ja. Ich muss bleiben, bis sie aufgeben. Dann holt Silbão mich hier raus, und ich gehe mit meinen Eltern und meinem Bruder nach Afrika.»

      «Da ist schon so manches bardische Kind mit solchen Füßen untergetaucht», sagte Una. «Es sind diese Füße in deinem Volk ja gar nicht so selten. Hier bist du sicher. Aber – haben sie einen Verdacht? Suchen sie einfach nur nach einem Kind mit sechs Zehen oder wissen sie, wer deine Eltern sind?»

      Dshirah nickte. Unas Finger, die Dshirahs Hand so leicht und doch so fest gehalten hatten, fühlten sich wie harte Klammern an, der ganze Arm wurde steif, und als sie die Hütte erreichten, blieb Una stehen und trat nicht in den Verschlag.

      «Brun», sagte sie, «der Junge, der geflohen ist, als du reinkamst, Brun, er ist durchgekommen, ja?»

      Dshirah nickte.

      «Auch das noch», murmelte Una und bückte sich, denn die Tür war niedrig, «hoffentlich holt Silbão dich bald.»

      In der Nacht, als sie zwischen Una und Juja lag, fiel Dshirah ein, was Shenja und die anderen Frauen an ihrem Körper gesucht hatten. Das Zeichen! Alle, die zum Haus des Kalifen gehörten, hatten das Sternbild des Löwen auf den Körper tätowiert. Juja musste es haben – und Una hatte es also auch.

      In den nächsten Wochen ließ Shenja sie in Ruhe.

      «Die sind wahrscheinlich gar nicht wirklich böse», überlegte Una. «Sie sind nur – nichts. Und dieses Nichts füllt sich hier mit En-Wlowa. Mit dem Dreck und dem Gestank. Das ist ein Teil von ihnen, und sie leiden nicht darunter. Sie weinen nicht um einen Abdalameh. Vielleicht haben sie längst aufgehört, ihre Kinder, ihre Freunde zu vermissen. Sie leiden nicht, also langweilen sie sich. Es geht ihnen schlechter als uns. Leiden ist ein Schmerz. Langeweile ist ein kitzelndes Jucken. Wahrscheinlich können sie an alles, was da draußen ist, nicht einmal mehr denken. Ich muss mich immer wieder mal an den Dorfrand setzen und auf die Mauer schauen. Die Blumen sind so schön.»

      Sie gingen nun zusammen zum Baden, und Dshirah durfte mal mit Juja, mal mit Una planschen. Da sah sie denn auch das Sternbild des Löwen tätowiert auf Jujas linker und Unas rechter Schulter. Juja war nur eine unbedeutende Nebenfrau des Kalifen gewesen, Una musste etwas Höheres gewesen sein. Eine Verwandte? Oder im Frauenpalast von Hisham III. eine Dame hohen Ansehens?

      Einmal kam, als sie mit Una badete, ein Gruppe junger Männer in den Bach gesprungen. Die Frauen flohen kreischend. Sofort waren andere Männer da, Dshirah hatte nicht gemerkt, woher sie so schnell kamen. Die vertrieben die Störer.

      «Wer solche Dienste leistet, kriegt mehr zu essen», erklärte Una.

      «Müssen wir keine Angst vor Mördern haben?», fragte Dshirah. «Es gibt hier doch Mörder?»

      «Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber ich glaube, es gibt hier mehr ehrliche Menschen als Verbrecher. Außerdem gibt es keine Waffen. Auch alle größeren Steine wurden eingesammelt. Morden kann man hier nur mit bloßen Händen. Das schaffen höchstens kräftige Männer. Die Männer hier sind aber nicht kräftig. Der Brei nährt die Frauen besser. Dies ist der einzige Ort im ganzen Kalifenreich, wo Frauen stärker sind als Männer.»

      Und dann kam ein Regentag. Das war schlimm. Am Abend zuvor hatte es ein kurzes, heftiges Gewitter gegeben, und es regnete die ganze Nacht. Am Morgen war der Staub in den Gassen zu einem zähen Matsch geworden. Dshirah wollte mit Juja und Una zum Brunnen und weiter zum Platz gehen, um den Brei abzuholen, aber als sie spürte, wie der Matsch sich an ihren Schuhen festsaugte und daran zog, blieb sie stehen. Sie bückte sich, fühlte das Leder der Schuhe, prüfte die Bänder. Der rechte Schuh saß fest wie immer, aber der linke –

      «Una», flüsterte sie, «das Band reißt ab. Da ist ein Riss im Schuh.»

      Una führte sie zurück in die Hütte.

      «Bleib hier», sagte sie. «Leg dich hin. Wenn jemand kommt, tust du, als wärst du krank. Wir holen den Brei und teilen ihn mit dir.»

      «Immer?», fragte Dshirah. «Immer, wenn es regnet?»

      «Du wirst die Regenzeit hier nicht erleben», tröstete Una. «Dann bist du längst da, wo es noch weniger regnet.»

      Eines konnte Dshirah sich nicht abgewöhnen: beim Gang über den Platz die Statue des Armei dan Hasud zu grüßen. Dann wurde Una manchmal etwas unwillig und zog sie weiter, riss an ihrem Arm, fast ein wenig grob, und einmal sagte sie: «Du solltest dir das abgewöhnen.»

      «Ist es gefährlich?», fragte Dshirah.

      «Nein, nur dumm.»

      «Aber ich verstehe das nicht.»

      Una schüttelte den Kopf.

      «Natürlich nicht. Wie dumm dieses Buch über das Vergessen ist, das der kluge Mann da geschrieben hat, kannst du wohl noch nicht verstehen. Aber, Dshirah, er ist doch schuld an deinem ganzen Elend.»

      Das verstand Dshirah erst recht nicht.

      «Hasud hat alles geregelt», erklärte Una, «und auch die Kalifen müssen sich an die Gesetze halten.»

      «Das ist doch gut», unterbrach Dshirah.

      «Ja, das ist gut. Aber es gibt ein Loch in diesem Gesetzbuch. Sie wissen nicht, wie sie ihre Verbrecher loswerden sollen. Köpfen, wie es bei den Araminen immer Brauch war? Oder hängen, wie die Barden das gemacht haben? Hasud hat das nicht festgelegt. Niemand in diesem Land will etwas mit Tod zu tun haben, und niemand will an so etwas schuld sein. Da schicken sie lieber alle nach En-Wlowa und machen ein Loch in die Mauer. Auf der Flucht erschießen geht schnell, niemand hat ein Todesurteil gesprochen, und der Flüchtende ist selber schuld.»

      Dshirah schaute in das stille, friedliche Gesicht des steinernen Weisen. Es war fleckig. Jemand hatte es mit Dreck beworfen.

      «Er hat es gut gemeint», fuhr Una fort, «ja, und dann hat er diese Sieben Sagen wieder bekannt gemacht. Weil die Sechste Sage genau mit der Frage endet, die er nicht beantworten wollte: Wie tötet das Gesetz die Verbrecher? Und, Dshirah, Armei dan Hasud kann alles mit seinem klugen Verstand erklären, er hat uns beigebracht, nur an das zu glauben, was wir mit eigenen Augen sehen können, aber wenn es um das Dshinnu geht, ist er ein Träumer, ein – Spinner! Das ist doch alles Unsinn mit dem Dshinnu in der goldenen Wiege oder mit den sieben Nächten, in denen das Dshinnu die Siebte Sage träumen soll! Du bist ein ganz gewöhnliches Kind.»

      «Ja!», rief Dshirah. «Ich will ein ganz gewöhnliches Kind sein, das seine Mutter lieb hat und seinen Vater und seinen Bruder. Und meine Freundin. Und meine Hunde und meine Pferde und – dich!»

      Sie warf sich in Unas Arme, aber am nächsten Tag grüßte sie den alten Weisen wieder. Er hatte von allen Menschen in En-Wlowa das friedlichste Gesicht.

      Tage – oder Wochen – geschah nichts. Dshirah konnte nichts tun als warten und denken und denken und denken und denken. Sie drückte sich eng an Una. Dann konnte sie immer für eine halbe Stunde aufhören, an ihre