«Und warum soll ein Aramine mit Herz seine Zunge zerbeißen? Ich kenne den Satz, aber ich habe ihn nie verstanden.»
Ihr Vater schwieg.
«Du musst es ihr jetzt sagen», verlangte ihre Mutter.
Er nickte.
«Weißt du, Zaiira, man kann einem Volk seine Geschichten nicht nehmen. Sie werden weitererzählt, heimlich des Nachts, den Kindern in den Schlaf hinein. Das haben unsere, deine Vorfahren verhindert. Sie haben allen Barden so lange die Zungen herausgeschnitten, bis sie glaubten, dass alles vergessen sei. Nun, sie haben sich geirrt.»
Januão schaute Zaiira an. Sie hockte auf ihrem Kissen, und der Mund war ihr aufgefallen, so weit auf, dass er ihre Zunge sehen konnte. Er sah, wie sie die Zunge tief in den Hals zurückzog, bis sie würgen musste.
‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge.›
Von nun an würde sie zu diesen Araminen gehören. Das machte das Lachen und Fröhlichsein sehr viel schwieriger. Sie tat ihm leid.
«Sag ihr alles!», verlangte die Siada.
Sidi Antvaris Hand verkrampfte sich am Rand des Tisches, auf dem immer noch kein Tee stand.
«Das muss nicht sein.»
«Doch», beharrte die Siada, «sie ist jetzt zwölf.»
Antvari nickte.
«Du musst nicht erschrecken, Zaiira, mehr wissen wir gar nicht. Armei dan Hasud schrieb vor ungefähr 250 Jahren sein berühmtes Buch über das Vergessen. Er wollte damit einen Schlussstrich ziehen unter alles, was gewesen war. Immerhin leben wir seitdem mit den Barden in Frieden und Gerechtigkeit. Das Seltsame ist nur – wir können nicht vergessen. Es gibt viele Araminen, die einfach nicht vergessen können, was sie den Barden angetan haben. Fällt das Vergessen den Barden leichter?»
Er warf Tazihlo einen zögernden Blick zu. Der wich ihm aus.
«Und, Zaiira», fuhr Sidi Antvari fort, «das Schlimmste ist: wir haben doch etwas vergessen. Und wir wissen nicht was. Wir haben es so gründlich vergessen, dass wir nicht einmal mehr wissen, was damals geschehen ist. Übrig geblieben ist ein quälendes Nicht-Wissen, ein zermürbendes Ahnen. Es muss da noch etwas gewesen sein, ein grausames Verbrechen, das die Araminen an den Barden begangen haben.»
«Schlimmer als das Herausschneiden der Zungen?», würgte Zaiira.
Ihr Vater zuckte die Achseln.
«Wir wissen es nicht.»
Die Siada stand auf.
«Ihr reitet jetzt zurück und holt ein Hirtenhemd von Dshirah», bestimmte sie. «Ihr gebt es nicht im Pferdehof ab, sondern bringt es zur Straße, wir erwarten euch. Ich schreibe inzwischen den Brief an den Arzt.»
«Und ich», sagte der Sidi, «bringe beides zum Krankenhaus. Niemand außer uns wird davon wissen.»
Mitten in Januão, in seinem Bauch, erklang ein kleines fröhliches Lied. Er lauschte und vergaß das Schauen. Kaum nahm er wahr, wie sein Vater dankte und sich verabschiedete. Er hätte jetzt gar zu gern Flöte gespielt. So stolperte er neben seinem Vater hinaus.
Zaiira blieb zurück und würgte an ihrer Zunge.
Geheimnisse
Dshirah schaute auf die badenden Frauen im Bach. Sie krampfte die Zehen in ihren Schuhen zusammen, als könnte sie dadurch einen wegdrücken. Sie wollte sich so gern waschen, aber sie blickte zu Una hinauf und sagte: «Ich kann nicht. Ich will das nicht. Ich kann meine …»
Fast hätte sie gesagt ‹Schuhe›, das durfte sie nicht, oh, das durfte sie nicht.
«… ich will meine Kleider nicht ausziehen.»
Una schaute auf die leere Stelle an Dshirahs linker Schulter.
«Was für ein Zeichen hast du da gehabt?», fragte sie. «Nun, das ist deine Sache. Ich will es nicht wissen.»
Sie trat an den Bach und sah sich die Frauen genauer an.
«Die Shenja und ihr Pack sind nicht da», stellte sie fest. «Ich glaube, ich kann dich ein paar Augenblicke lang allein lassen. Hör zu: Wer niemanden hat, der auf seine Kleider und seine Schale aufpasst, badet mit allem seinem Besitz. Wir haben ja sonst nichts. Ich bleibe in der Nähe. Wenn dich eine angreift, bin ich da. Geh nicht weiter den Bach hinunter. Für alle die da bist du nun ein schutzloses Kind. Und eil dich. Nur reinigen. Nicht planschen.»
Dshirah atmete auf. So einfach war das.
Das Wasser war kühl. Und da es in En-Wlowa unter der Erde floss und erst hier an die Oberfläche kam, war es sauber. Dshirah fühlte, wie es ihren Körper reinigte, den Schmutz davontrug, nein, sie hatte keine Lust zum Planschen. Sie dachte an das Spiel von gestern in dem bunten, gefliesten Bachbett mitten in der Stadt. Gestern? War das gestern? Silbão und die Jungen, Kirr, der kleine Barde, der sie verraten hatte – oh, hätte sie doch nie mit den Jungen gespielt, nie und schon gar nicht gestern – war das wirklich gestern? Es war seitdem mehr geschehen als in ihrem ganzen Leben. Ihr Herz wurde schwer wie ein Stein, und wenn sie noch lange an gestern dachte, würde der Stein in dem Wasser auf den Grund sinken. Sie schaute den Bach hinunter. Es ging nur sacht abwärts. Wo das Wasser En-Wlowa verließ, war ein Gitter in der Mauer, das bis in den Boden reichte. Dshirah merkte, dass alle Frauen aufgehört hatten, sich zu waschen, und sie anstarrten. Sie sprang aus dem Bach, schüttelte sich wie ein nasser Hund, wie Run, Lont und Moia es immer taten, wenn sie aus dem Fluss kamen, und quer durch ihre Angst schoss der Gedanke: Warum gibt es hier keine Hunde?
Sie lief zu Una, die verborgen hinter einer Ecke stand. Die nassen Kleider waren nicht unangenehm, denn die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, aber die Blicke der Frauen stachen in ihren Rücken. Dshirah hatte viele Fragen, und doch fiel ihr nichts ein als: «Warum gibt es hier keine Hunde?»
Sie gingen nebeneinander her.
«Hast du Hunde gern?», fragte Una.
Dshirah nickte. «Wir haben drei Hunde, die brauchen wir …»
«Das will ich nicht wissen», unterbrach Una. «Manchmal kommen welche und fragen einen aus. Die meisten kümmern sich um nichts, aber manche glauben, es könnte ihnen was nützen, Geheimnisse herauszupressen. Ich glaube, es wäre dir nicht recht, wenn sie erfahren, wer du bist und warum du hier bist.»
Dshirah schüttelte heftig den Kopf.
«Und von den Hunden sag ich dir auch nichts», fuhr Una fort. «Weil du Hunde magst. Da sag ich dir nichts.»
Vom nächsten Tag an bekam Dshirah etwas zu essen. Und sie gehörte zu den Sattesten im Lager, denn allen wurde ungefähr die gleiche Menge Brei in die Schale gegeben. Das war für ein elfjähriges Mädchen genug. Am hungrigsten waren die jungen Männer, die gern das Vierfache gegessen hätten.
«Das wollen sie so», erklärte Una. «Sie wollen, dass die jungen Männer schwach sind und sich kaum auf den Beinen halten können.»
Dshirah schlief jetzt unter Decken, die alte Lumpen, aber gar nicht so unangenehm waren, denn Una wusch sie im Bach. Sie lag zwischen Una und Juja und hatte es warm und hätte gut schlafen können, wenn sie nicht immer hätte denken müssen: Januão hat jetzt die Pferde versorgt, die Hunde liegen vor den Ställen, die Mutter packt heimlich unsere Sachen für Afrika, und Zaiira hat heute Dshallalalama geritten und die ganze Zeit an mich gedacht.
Gleich am Morgen musste sie dann wieder Juja versichern, Abdalameh gehe es gut. Juja fragte mehrmals täglich. Sie verstand nie, dass Dshirah schon längst keine Neuigkeiten mehr mitteilen konnte. Una und Juja gingen immer zusammen zum Baden, damit sie sich gegenseitig Kleider und Schalen halten konnten. Dshirah wäre gern mitgegangen, aber Una schüttelte den Kopf.
«Bleib du hier», verlangte sie. «Wir