Meine zweite Bemerkung lautet, dass diese Offenheit heutzutage eigentlich ein Segen ist, kein Fluch, wie unbequem sie auch manchmal sein mag. Denn Erasmus’ Empfehlung – und es war natürlich nicht bloß seine –, dass theologische Schulen eine Freistatt für Diskussionen sein sollten, die nicht für die Ohren der Massen „geeignet“ seien, wurde über die Jahrhunderte nur allzu gut befolgt, mit dem Ergebnis, dass es nun eine Tradition systematischer Scheinheiligkeit in allen christlichen Kirchen gibt, die das Verhältnis zwischen Geistlichen und Gemeindemitgliedern infiziert und dazu führt, dass viele Geistliche sich in einem Netz aus Unaufrichtigkeit und unverblümtem Lügen verfangen, das ihr Leben verschandelt.
In den Vereinigten Staaten beschließen nicht wenige junge Menschen mit guten Absichten, die in Gemeinden mit einer starken Tradition zum Kirchgang aufgewachsen sind – nicht nur im sogenannten Bibelgürtel –, dass der beste Weg, Gutes zu tun in dieser Welt, darin bestehe, dem Stand der Geistlichen beizutreten. Wenn sie dann in die Seminare kommen, sind sie oft schockiert, wenn sie eine anspruchsvolle Welt der Bibelexegese und theologischen Nuancen entdecken, von der man ihnen in der Sonntagsschule oder in den Predigten ihrer Pfarrer nie berichtet hat. Diejenigen, die ihren Lebensplan nicht abrupt über den Haufen werfen und den Klauen der Kirche entkommen wollen, finden sich recht bald wieder als Mitschuldige in einer Verschwörung der Doppelzüngigkeit – mit einer Reihe vorherrschender stillschweigender Annahmen im Inneren der Seminarräume und einer zweiten Art und Weise, sich zum Wohle der Kirchgänger auszudrücken. Sie bewältigen den Drahtseilakt zwischen Taktgefühl am äußersten unschuldigen und dreister Lüge am äußersten unredlichen Ende mit variierenden Graden von Anstand und innerer Bequemlichkeit, wobei sie sich manchmal selbst quälen mit dem Bewusstsein ihrer tiefen Arglist und gelegentlich auch erfolgreich Kokons aus Metaphern entwerfen (oft verbunden mit einem Schuss Selbsttäuschung), in denen sie den Widersprüchen ihrer Lebensarbeit entfliehen können.
Linda LaScola und ich haben systematisch und streng vertraulich über mehrere Jahre hinweg vom Glauben abgekommene Geistliche interviewt, und wir erfahren eine Menge darüber, wie unterschiedliche Pastoren, von den liberalsten bis zu den am strengsten am Buchstaben hängenden Konfessionen, mit der Unstimmigkeit zwischen dem, was ihre Kongregationen von ihnen hören wollen, und dem, was sie selbst glauben, umgehen.7 Das Fehlen einer klaren Trennlinie zwischen Diplomatie am einen Ende des Spektrums und krasser Verlogenheit und Heuchelei am anderen Ende stürzt die Pfarrer fast unweigerlich in beunruhigende Gewissensbisse. Wir, die wir keine Pastoren sind, können uns glücklich schätzen, dass wir nicht allzu häufig im Leben schwierige Entscheidungen zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit treffen müssen, und jeder, der einen ungläubigen Prediger, der dennoch auf der Kanzel bleibt, kurzerhand zu verurteilen bereit ist, sollte wie wir einen genauen Blick darauf werfen, wie sie in dieses entsetzliche Dilemma geraten sind. Es sind gute Menschen, die durch ihre eigene Güte gefangen sind.
Obwohl wir noch keine genaue Schätzung abgeben können, wie verbreitet dieses Phänomen ist – vermuten doch einige Geistliche, die wir befragt haben, dass die Mehrheit ihrer Kollegen ihre Situation teile, obwohl sie dies nicht sicher wissen können –, hat keiner der Religionsführer, die unsere erste Studie kommentiert haben, seine Überraschung über unsere Entdeckungen oder gar Skepsis ihnen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ein Ableger unserer Studie, The Clergy Project (clergyproject.org), wurde 2011 ins Leben gerufen, um eine vertrauliche Online-Gemeinschaft für amtierende und ehemalige Geistliche anzubieten, die nicht an das glauben, was sie auf Geheiß ihrer Kirchen aus der Liturgie lesen oder von der Kanzel herab bekennen sollen. Es gibt bereits Hunderte von Mitgliedern und eine Reihe von Kandidaten, die darauf warten, überprüft zu werden. Es verlangt Mut, sich dort einzureihen, und Vertrauen in die Sicherheit dieser Webseite, so dass neue Bewerber um die Mitgliedschaft einer sehr sorgfältigen Überprüfung unterworfen werden, um sicherzustellen, dass keine Betrüger Zugang erlangen.8
Je mehr ich über das Wesen dieser heimlichen Absonderung des klerikalen Verständnisses vom laienhaften Verständnis gelernt habe, umso dankbarer bin ich dafür, dass sich die Wissenschaft noch keiner vergleichbaren Vorgehensweise verschrieben hat, trotz einiger Ermunterungen eminenter Denker. Im Chor der Wissenschaftler und Philosophen, die heutzutage erklären, der freie Wille sei eine Illusion, folgen einige unabsichtlich Erasmus’ Vorbild, indem sie öffentlich erklären, dass Schritte unternommen werden sollten, um diese Tatsache von der öffentlichen Aufmerksamkeit fernzuhalten, scheinbar ohne die schon fast skurrile Diskrepanz zwischen ihrem Ziel und ihren Mitteln zu bemerken. James B. Miles9 hat, was sehr nützlich ist, einen beeindruckenden Kader dieser „Illusionisten“ zusammengestellt, und unter ihnen finden sich meine guten Freunde, die Psychologen Steven Pinker und Daniel Wegner aus Harvard sowie Marvin Minsky vom MIT.
Interessanterweise kommt die am besten durchdachte Version dieser Empfehlung von dem Philosophen Saul Smilansky,10 aber er war nicht sehr erfolgreich darin, andere Philosophen für seine Sache zu gewinnen:
„Die Menschheit täuscht sich zum Glück über den freien Willen, und dies scheint eine Voraussetzung zivilisierter Moralität und persönlicher Werte zu sein […] Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass es grundlegende Überzeugungen gibt, die aus moralischen Gründen nicht aufgegeben werden sollten, obwohl sie einander zerstören könnten oder sogar teilweise auf inkohärenten Konzeptionen beruhen. Zumindest bei der Mehrzahl der Menschen bedürfen diese Überzeugungen potenziell der motivierten Mediation und einer Abschottung durch Illusion, die von Wunschdenken bis hin zur Selbsttäuschung reicht.“
Der diesen Vorschlägen innewohnende Paternalismus ist auf atemberaubende Weise herablassend: Wir Erkennende können mit der Wahrheit umgehen, aber „die Mehrzahl der Menschen“ muss mit einer noblen Lüge eingelullt werden. Miles zitiert John Horgan, ehemals Redakteur beim Scientific American, aus einem Aufsatz auf der sehr einflussreichen Webseite Edge.org: „Die Wissenschaft hat zunehmend klargemacht (mir zumindest), dass der freie Wille eine Illusion ist. Aber er ist – noch mehr als Gott – eine prächtige und absolut notwendige Illusion.“ Doch anscheinend nicht absolut notwendig für Horgan.
Erasmus ist dieser Falle entkommen. Er stellt sich nie explizit der Frage, ob er Heuchelei befürworten würde, um die lebenserhaltende Illusion der Willensfreiheit aufrechtzuerhalten, da er argumentiert, dass der freie Wille keine Illusion sei. Die Willensfreiheit sei etwas Reales, und Erasmus kann das anhand seiner geschickten