Für die von Aischylos dargestellte Konsequenz, mit der die religiöse Forderung der Hikesie und die Gewährung eines persönlichen Asyls der Metoikie im politischen Entscheidungsprozess verknüpft werden, ist es von einiger Bedeutung, mit welchen Worten die Volksversammlung der Argiver von Danaos zitiert wird:
Mitwohner sollen wir des Lands hier sein und frei
geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen;
Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns
Wegführen; sollt es sein, daß man Gewalt gebraucht,
Soll, wer nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier,
Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluß verbannt.
So war das Wort, das, überzeugend sprach für uns
Pelasgias Fürst […]
Dies hörte kaum, so hob die Hände Argos‘ Volk
Und stimmte – ohne Heroldsruf – für den Beschluß.10
So bewirkt die Rede des Königs Pelasgos, dass die Volksversammlung einstimmig entscheidet. Die dafür gebrauchten rhetorischen Bilder erscheinen besonders wirkungsvoll, da er sich und das Volk von Argos zuvor schon mit einem Schiff von Migranten verglichen hat und nun allen, welche den Schutzflehenden nicht helfen, damit droht, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden.11
Annäherungen zwischen Theater und Asyl
Die theatralische, eigentlich dionysische Umkehrung von Migrant und Gastgeber ist bis heute ein wirksames Mittel, um die Ängste von Gesellschaften zu überwinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren einige Produktionen von Aischylos’ Tragödie, welche die Schwierigkeiten der aktuellen Asylpolitik vorführten, indem sie die Hiketiden auf ihren aktuellen Gehalt befragten. Zwei neuere Beispiele seien hier erwähnt, zunächst Enrico Lübbes Inszenierung (Schauspiel Leipzig, Herbst 2015) des Textes Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, geschrieben mit Bezug auf den realen Konflikt von Flüchtlingen, die 2013 in Wien ein Kirchenasyl erreichen wollten und daraufhin von der Polizei deportiert wurden. An diesem Fall hat Jelinek die Macht bürokratischer Verfahren thematisiert, die den Asylsuchenden auf seine körperliche, aller individuellen Rechte entkleidete Existenz reduzieren. Assoziationen mit dem von Agamben analysierten Phänomen des Homo Sacer waren auch in Lübbes Inszenierung präsent, welche die Relevanz der Texte von Aischylos und Jelinek gerade in ihrer Verknüpfung deutlich machte. Die räumliche Situation war geprägt durch einen großen stählernen Schiffsrumpf. Der Chor der Schutzflehenden verwandelte sich in eine Gruppe von Jelinek-Doubles, dann in eine Masse von Flüchtlingen und schließlich in eine Gruppe Touristen, kostümiert als übergroße Hotdogs, die sich in der Sonne grillen lassen und dabei über die Umweltverschmutzung an den Stränden klagen, die angeblich von Flüchtlingen verursacht sei. Wie schon Jelineks Text spielte die Inszenierung mit dem scharfen Kontrast zwischen pathetischen Bildern von Leiden und Angst und einem Zynismus der Banalitäten.1
Einen anderen Ansatz verfolgte Sebastian Nübling ebenfalls im Herbst 2015 am Berliner Gorki Theater und ebenfalls ausgehend von Aischylos und Jelinek, darüber hinaus aber von der Asyldebatte in deutschen Parlamenten sowie von persönlichen Erinnerungen einiger Migranten, die bereits dem Gorki-Ensemble angehörten. Die Stühle wurden entfernt und die Zuschauer saßen auf einer Tribüne, während das Parkett des Theaters als Versammlungsraum benutzt wurde. Im weitgehenden Verzicht auf festgelegte Rollen, wenn auch durch körperliche Handlungen auf das Stück verweisend, engagierten sich die Akteure vor allem in einem Reenactment der Debatte über die Gesetze zu Einwanderung und Asyl. Die Aufführung endete mit einer Versammlung aller Zuschauer um die neuen Mitglieder des Ensembles, die somit Gespräche über ihre persönliche Erfahrung von Flucht und Migration aktiv prägen konnten anstatt bloß repräsentiert zu werden. Auf diese Problematik verwies schon der Titel der Produktion: In Unserem Namen.
Dem Ansatz dieser und weiterer Produktionen am Gorki-Theater entspricht eine noch weiter gehende Tendenz, Theatergebäude selbst in Asyle zu verwandeln, die für jeden Schutzbedürftigen offen sein und zugleich als Treffpunkt dienen sollen für Helfer und Unterstützer. Diese Entwicklung mag notwendig erscheinen zur Öffnung der Repräsentationsstrukturen für Ansätze zur Bewältigung konkreter gesellschaftlicher Konflikte. Andererseits ist Theater einer der wenigen Orte, die nicht darauf verpflichtet werden sollten, soziale und ökonomische Probleme zu lösen oder Mängel der Verwaltung zu kompensieren.2 Wie bei zahlreichen anderen Konflikten hatte in diesem Fall der plötzliche Drang der Theaterhäuser, das Thema Flüchtlinge zu behandeln, kaum politische Folgen, wirkte am ehesten als Beruhigung des eigenen Gewissens (auch für das Publikum).3 So bleibt Theater aber umso mehr darauf angewiesen, die gewohnten Trennungen von eigen und fremd mit jeweils spezifischen Mitteln zu thematisieren und womöglich zu überschreiten.
Dass dafür noch ganz andere Energien freigesetzt werden können, die eine mögliche Wiederaufnahme der Tragödie ebenso betreffen wie die politische Brisanz des Asylthemas, soll nun noch mit einer weiteren Annäherung an Aischylos’ Danaiden-Stück gezeigt werden. Dabei geht es um die Theaterarbeit des 2001 verstorbenen Bühnenbildners, Autors und Regisseurs Einar Schleef.
Flucht, Fremdheit und Asyl bei Einar Schleef
Schleefs Produktion Mütter, aufgeführt im Februar 1986 am Schauspiel Frankfurt, verknüpfte die Stücke Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Bittflehenden von Euripides. Die Montage der beiden Tragödientexte umfasste den Krieg gegen Theben und den anschließenden Kampf der Mütter um die Leichen ihrer in der Schlacht gefallenen Söhne. Die Inszenierung arbeitete, modellhaft für alle weiteren Schleef-Produktionen, an der Konfrontation von einzelnem Schauspieler und Chor bzw. Chorgruppen, durch ein rhythmisches Sprechen, das eine spezifische Gewalt der Darstellung im Konflikt der Stimmen vorführte. Die Aggression, der sich die Zuschauer ausgesetzt sahen, wirkte nicht mehr nur als theatrales Zeichen, sondern mit der Intensität einer körperlichen Erfahrung, wie auch die extremen, gespaltenen Reaktionen des Publikums zeigten. Die Aufführung demonstrierte jedenfalls, dass die Rahmenbedingungen von Raum, Zeit und Chor, die das antike Theater der Tragödie etabliert hat, am ehesten noch mit einer experimentellen Theaterarbeit zu realisieren sind, die ihre ästhetischen Entscheidungen zugleich als politische begreift und auch die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit ihrer gewohnten „Rolle“ bringt.1
Wichtig für die Bedeutung des Chors in Schleefs Arbeit sind seine wiederholten Hinweise auf ihren gesellschaftlichen Kontext. Gegenüber dem Kritiker, der ihm – noch ohne eine Aufführung gesehen zu haben – sein angebliches „Nazi-Theater“ vorwarf, beschrieb er als Impuls für die Tempelbesetzung durch die sieben Mütter in der Tragödien-Inszenierung von 1986 „eine Frauendemo, die sich in Westberlin über eine Peepshow hermacht“,2 und ähnliche eigene Erfahrungen mit einem prekären Leben als Republikflüchtling aus dem Osten in der BRD:
Meine ausgeprägte Chor-Form ist keine Abreaktion einer DDR-Vergangenheit, keine Imitation von Marschkolonnen, Kriegsspielen und Appellen, sondern eine Formulierung der Vorgänge im Westen, meine Antwort auf Polizeiaktionen, Überfälle, Plünderungen, Demonstrationen, Menschenansammlungen, denen ich ausgesetzt bin. Sicher begegne ich diesen Vorgängen nach meiner Flucht, mit noch unsicherem Stand im Westen, wesentlich empfindlicher als andere.3
Gegen den klischeehaften Vorwurf, die Arbeit mit Chören sei bloß ein Reflex auf das Leben im Sozialismus, hält Schleef hier bewusst seine aktuellen Eindrücke vom Leben im Westen. Seine künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen wurde allerdings von der Mehrzahl seiner Kritiker ebenso wenig toleriert wie die Entwicklung des neuen Chortheaters. Dessen Einsatzpunkte hat