»Keine Sorge, Nørdi, ich vergreif mich nicht an Schwächeren. Mach’s gut.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und kehrte zurück in das Zimmer. Beinahe wäre er über Lauchi gestolpert, der gerade ein Poster aufhängte. Eine Karte des gesamten Flusslandes mit bunten Markierungen. Markierungen in den verbotenen Zonen.
»Was ist das da?«, fragte Norman. »Sieht fast aus wie eine Route durch das Eisgebirge.«
»D-das …« Lauchi schluckte. Oh, der war wohl noch nicht über den Abschied hinweg. »Das ist die Strecke, die Gottfrieda von Græwenitzschs Expedition durch das Eisgebirge genommen hat. Von hier sind sie gestartet.«
Ein zitternder Finger deutete auf Rørk, die Hafenstadt, die eine florierende Handelsbeziehung mit Løbago unterhielt. Sie waren sich in Größe und Reichtum fast ebenbürtig. Manchmal, wenn die Monsterangriffe nicht ganz so schlimm waren, führten sie sogar Krieg miteinander.
»Das kam mir gleich bekannt vor«, sagte Norman. Ein winziger Hauch guter Laune kehrte in ihn zurück. »Ich hab von der Expedition gelesen. Das ist aus meinem Lieblingsbuch.«
»Was?« Lauchi strahlte. Stand ihm gar nicht schlecht. »Ist dein Lieblingsbuch etwa auch »Die Tagebücher der Gottfrieda von Græwenitzsch 1791-1797«?«
»Hä? Nein.« Norman kramte in seiner Kiste. Er zog ein dünnes Buch mit buntem Cover hervor. »Es ist das hier. »Der Schrecken der Gletscher – Blut und Eis«. Das beste Buch überhaupt!«
»Der Schrecken der Gletscher?« Lauchis Gesichtsausdruck wechselte von erfreut zu entsetzt, als er den Text auf dem Umschlag las. »Gottfriedas grässliche Abenteuer?« Das ist ja Schund! Und faktisch falsch noch dazu! Frau von Græwenitzsch war über vierzig, als sie ihre Expedition unternahm. Warum ist sie auf dem Titelbild höchstens zwanzig? Und warum ist sie so … umfangreich?«
»Umfangreich?« Norman schaute auf das Titelbild, auf dem Gottfriedas Bluse gerade von einem Eismonster zerrissen wurde.
»Ihre … Oberweite«, erklärte Lauchi. »Das ist … Das ist ja skandalös. Wie kann man aus ihrem Erbe so einen Schundroman machen?«
»Das ist mein Lieblingsbuch«, knurrte Norman und Lauchi wich mit weit aufgerissenen Augen zurück.
Wütend warf Norman das Buch auf das einzelne Regalbrett über seinem Bett. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Gottfrieda so dicke Dinger hatte. Aber die Geschichte war saugeil. Dieser Schwächling hatte ja keine Ahnung!
Sie sprachen bis zum Abendessen nicht mehr miteinander.
6. Abendessen
Das Essen war so mies wie im Internat. Aber nicht so mies wie daheim bei Mutti während seiner Kindheit. Trotzdem konnte Norman sich nicht richtig über Dinkelgemüse und Ei freuen. Missmutig sah er zu, wie der Kantinenchef die Pampe auf seinen Teller klatschte. Er nahm ihn entgegen und schaute sich um.
Der Speisesaal war niedrig, breit und laut. Gelächter und Rufe hallten von den hohen Wänden wider. Ein Lärm wie in einer Kinderkrippe. Dabei waren die meisten Leute hier nicht nur erwachsen, sondern deutlich älter als zwanzig. Die Studenten waren nur ein kleiner Teil des Arkanen Instituts. Da waren noch die Beamten und die Generäle und die Hohen Magier und … Gunnar Krafft, der Größte, Schönste und Beste unter ihnen. Normans Atem stockte, als er ihn oben auf der Loge sitzen sah. Was Gunnar sich da in den Mund steckte, sah richtig lecker aus. Natürlich. Da oben hatten sie richtige Kellner und bekamen bestimmt jeden Tag Fleisch.
Leider gehörte Norman auf die andere Ebene. Die untere, auf die die hohen Tiere auf dem Podest hinuntersahen. Wenn sie sich denn dazu herabließen. Hier unten waberte der Geruch nach altem Fett und verkochtem Gemüse durch die feuchte Luft. Er zwängte sich zwischen ein paar Studenten vorbei, die an den nietenverzierten Metalltischen saßen und Futter in sich reinschaufelten. Die Holzdielen knarrten unter seinen Stiefeln.
Er war zu spät losgegangen, nachdem sie die Glocke geläutet hatten. Die Essensglocke. Fast wäre er einfach im Bett liegengeblieben. Er wollte nicht in den Saal. Nicht, nachdem er sich vor allen lächerlich gemacht hatte. Aber er hatte Hunger. Das motivierte ihn, wie immer … Ah, da waren sie.
Tore und Brenna saßen an einem Tisch mit anderen Magieschülern. Brenna warf Tore gerade ein Stück Möhre in den Ausschnitt seiner Anwärteruniform. Ihre kräftigen Zähne blitzten, als sie loslachte. Norman seufzte. Er wollte ihnen nicht mal in die Augen schauen. Die beiden hatten es geschafft und er … war ein verdammter Katalysator geworden. Falls sich das nicht doch noch als Versehen herausstellte. Vielleicht würde morgen bei Unterrichtsbeginn ja herauskommen, dass das ein blöder Irrtum gewesen war.
»Hey«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. »Wie geht’s?«
Die beiden drehten sich zu ihm um. Norman stellte sein Tablett ab und setzte sich auf den leeren Platz neben Tore.
»Wie sind eure Zimmer?«, fragte Norman. »Meins ist ein Schuhkarton.«
Er steckte sich einen Löffel Gemüse in den Mund. Die beiden schwiegen. Hä? Er schaute sie an. Kurz hielten sie seinem Blick stand, dann sahen sie auf die Tischplatte. Und sie aßen nicht. Es wurde ruhig in der Runde.
»Mein Zimmer ist in Ordnung«, erzählte Brenna der Tischplatte. »Ich teil das mit einem Mädel aus Agøln. Äh.«
Tore räusperte sich.
»Das ist der Motorentisch, Norman«, murmelte er.
Was? Norman blickte in die anderen Gesichter. Die alle zurückstarrten. Richtig, das waren all die Typen und Mädels, die goldgelb geleuchtet hatten. Ganz hinten saß Lauchi und schaute trübselig.
»Was?«, fragte Norman. Ein banges Gefühl brachte seinen Magen zum Sinken. »Es gibt einen Motorentisch? Was ist das denn für ein Scheiß? Früher haben wir auch alle zusammengesessen.«
»Das war früher.« Brenna räusperte sich. »Jetzt sind wir Magieschüler. Tut mir leid.«
Immer noch sahen die beiden ihn nicht an. Die anderen Studenten dafür umso mehr.
»Ihr blöden Arschlöcher.« Norman starrte sie an. Dann stand er auf, dass sein Stuhl umfiel und zu Boden krachte. »Ihr arroganten, eingebildeten Drecksäcke! Heute Morgen habt ihr noch so getan, als wärt ihr meine Freunde!«
Sie antworteten nicht. Norman wollte mehr sagen. Doch ein Blick auf die Loge zeigte ihm, dass er erneut die Aufmerksamkeit der Direktoren auf sich gezogen hatte. Und die von Gunnar. Alle beobachteten ihn. Der Direktor hatte schon eine Hand erhoben, als wollte er Norman gleich wieder zu Boden schleudern.
Norman schluckte. Er hatte wirklich geglaubt, er sei am Tiefpunkt angelangt. Aber aufzustehen und sich einen neuen Platz zu suchen, war noch schlimmer. Er fühlte sich, als hätte er Blei geschluckt.
Sein Blick schweifte im Saal umher. Ah, da waren die Katalysatoren. Gudrun Lovell und die anderen. Die starrten ihn auch an. Dann senkten sie schnell den Blick. Da gehörte er also hin, ja?
Nein, dachte Norman.
Er setzte sich an den nächstbesten freien Platz und begann, grimmig die Mahlzeit in sich hineinzuschaufeln. Der Lärmpegel schwoll wieder an. Immer, wenn er aufsah, schaute irgendjemand hastig weg. Er blickte in hämisch verzogene Gesichter. Schon am ersten Abend war er das Gespött des Arkanen Instituts. Fantastisch.
Und das Essen war pampig.
Er schlang alles herunter und trottete zurück auf den Dachboden. Nachdem er sich im Bad frisch gemacht hatte, legte er sich ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
Morgen geht’s los, dachte er. Ich hab mich so darauf gefreut und jetzt … würde ich am liebsten abhauen.
Vielleicht konnte er das. Alles hinschmeißen und untertauchen. Das würde als Desertieren gelten und ihm ein paar Jahre Knast einbringen,