Nein, meine „Normalität“, mein Alltag ist gar nicht schrecklich. Ich habe ein insgesamt feines, sehr freies Leben – und vor allem lebe ich ausgesprochen gerne im Jetzt. Ich bin gerne zu Hause mit meinen Lieben um mich, in meiner schönen Umgebung. Aber ich brauche auch Abwechslung. Routine killt mich. Das Wiederholen von Gleichem lässt mich schnappatmen und gibt mir das Gefühl, gefangen zu sein, eingesperrt im Hamsterrad. Auch im normalen Leben versuche ich, immer wieder Neues zu erleben, mich neuen Herausforderungen zu stellen, um meine Sinne nicht verkümmern zu lassen. Ich suche neue Wege zu alten Zielen, schwierigere Aufgaben, andere (berufliche) Herausforderungen …aber ich brauche auch die Bewegung durch die Welt, das Fahren, das Vorwärtskommen. Ich will das Neue sehen, will entdecken und erleben und immer neue Bilder in mir sammeln, um mein Herz zu füllen.
… FREIHEIT. UND ZWAR JETZT!
ICH WERDE NIE MEHR SEIN,
WAS ICH SOLL,
SONDERN WERDEN,
WIE ICH BIN.
ICH MACH DEN AUSBRUCH, DRÜCK RESET,
DENN DAS LEBEN IST NICHT MORGEN,
SONDERN JETZT …
"JETZT" VON IRIE RÉVOLTÉS
Ich verinnerliche also meine Pläne zur nächsten Reise und bezeichne sie als „Fluchtpläne“. Nur mit dieser Vision habe ich das Gefühl, im Alltag zu bestehen und nicht gefangen zu bleiben. Und nur mit diesen Gedanken an eine schöne, nahe Zukunft kann ich völlig gelassen in der Gegenwart bleiben, im Jetzt sein.
Das Absurde ist: Die Vorfreude nimmt exponentiell zur Nähe des Abfahrtsdatums ab! Je mehr ich mich auf den geplanten, lang ersehnten, sehr vorgefreuten Termin der Abreise zubewege, desto mehr beginne ich mich daheim wohlzufühlen. Je mehr ich mich dem Moment des Verabschiedens nähere und damit dem, worauf ich mich seit Monaten gefreut habe, desto wichtiger wird mir die Nähe meiner Lieben, der Genuss meiner schönen Wohnung. Selbst meine Stadt erscheint mir plötzlich als nicht verlassensfähig, der Alltag durchaus als golden. Verrückt, oder? In diesen Momenten frage ich mich wieder und wieder, was ich eigentlich will mit meinen Touren. Was bewegt mich, immer wieder allein in die Welt aufzubrechen? Allein zu sein, wochenlang in einem kleinen Kokon aus Stahlblech durch die Fremde zu zuckeln? Ist es inzwischen ein Zwang, mich einmal im Jahr zu beweisen? Ein Ritual? Eine langweilige Gewohnheit? Mutiere ich (herrje!) mit dem sturen Beibehalten meiner gewohnten Lebensumgebung im Van etwa zu einem Spießer? („Als Spießbürger, Spießer werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“ Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Spießbürger)
Ich fahre trotzdem. Tief in mir weiß ich, wie beglückt ich von jeder Reise zurückkomme. Ich fühle mich so lebendig in fremder Umgebung, an neuen Orten, in mir unbekannten Kulturen! Lebendig, weil ich mich zur Gänze spüre, alle meine Antennen auf meine Umgebung gerichtet sind und ich mich in dieser Fremdheit ganz genau einsortiere: Ich checke mich, meine Position, mein Verhalten und mein Umfeld. An allen Orten, in jeder Situation, bei jeder Person: Ich bin hellwach! Keinen Moment auf meinen Reisen lasse ich unbewusst verstreichen. Ich will aufsaugen, entdecken, erleben … leben.
Und ich weise mich selbst auf die Schönheiten hin, staune stumm und mit vollem Herzen, schüttle ungläubig-bewundernd den Kopf über so vieles und packe diese Bilder in meinen Erinnerungskoffer, um sie mit niemandem so intensiv teilen zu können, wie ich sie erlebe. Bräuchte ich also nicht doch jemanden, der dieses Erleben mit mir teilt? Ist geteilte Freude nicht doppelte Freude? Wie oft habe ich mir diese Frage schon gestellt, nur um sie anschließend klar zu beantworten: nein. Ich brauche niemanden bei mir. Es ist einfach zu schön, eine Weile nur um mich selbst zu kreisen. Es beglückt mich, nur auf meine Bedürfnisse achten zu müssen. Und ja: Es macht mich stolz und froh, dass ich ganz alleine für mich sorgen und auf mich aufpassen kann. Dass ich mich in der Welt problemlos zurechtfinde und immer weiß, wo ich wirklich bin, ohne mich auf die Navigation von Geräten oder Mitreisenden verlassen zu müssen. Dass ich mich ganz alleine in schöne Momente hinein- und aus hässlichen Situationen hinausführen kann. Und dass ich niemanden brauche, um die schönsten Momente teilen zu können (noch nicht einmal, um dort ein Foto von mir zu machen). Richtig: Manchmal läuft mein Herz fast über vor Freude und Glück über diesen Moment, und ich kann mich niemandem spontan zuwenden, um jubelnd meine Gedanken in Worte zu packen. Aber könnte diese Freude wirklich gesteigert werden, nur weil man zu zweit ist? Spürt man sich selbst mehr, wenn jemand anderer das Befinden kommentiert? Brauche ich eine „Zweitmeinung“, um mich zu vergewissern, dass das Erleben wirklich so fantastisch ist, wie es sich in meinem Herzen gerade anfühlt? Nein! Ich brauche in diesem Moment niemanden, der das Glück mit mit teilt, um es zu doppeln – ich habe die Zeit für mich, ohne Unterhaltung, ohne Ablenkung. Ich darf in mir spüren, was mich so erfreut. Was ich schmecke, rieche, spüre, höre. Ich beschreibe mir selbst diesen wunderbaren Moment und verinnerliche ihn in meinem ganz persönlichen Buch der Glücksmomente. Momente, zu schön, um sie zu „zerreden“. Oder um darüber zu diskutieren, wenn der eine bleiben und der andere weiter möchte.
Es hat eine andere Qualität, dieses Alleinsein. Man kann nicht werten, ob besser oder schlechter … Ich kenne und liebe alle Formen des Reisens: zu zweit verliebt im Auto, als glückliche Familie im Wohnmobil, mit Freunden auf dem Motorrad … Aber allein unterwegs zu sein, ist etwas Besonderes, etwas Wichtiges – und wie ich immer wieder gerne behaupte: etwas Gesundes. Ja, Gesundendes, Heilsames. Tage- oder wochenlang nur für sich zu sein ist ein Zustand, der in all dem vollen, übermäßig anstrengenden und schnellen Alltag einfach nötig ist – für das Ankommen bei sich selbst.
Es geht mir nicht darum (wie ich meiner Familie und meinen Freunden immer wieder versichere), WEGzufahren. Es geht vielmehr um das HINfahren. Hin zur Freiheit. Hin zur Selbstbestimmung, zur Konzentration auf das Wesentliche. Ich flüchte nicht vor zu viel und zu buntem Leben (das ich ja sehr liebe), sondern cruise in das langsame, stille, geruhsamere Sein. Niemand ist mir näher und mit mir zufriedener als ich selbst (zumindest im Idealfall! Manchmal finde ich mich schrecklich und sehr anstrengend, aber das ist eine andere Geschichte). Und dieses heilsame Ganz-in-Ruhe-mit-mir-Sein finde ich in der Regel zu Hause nicht, weil alles drumherum so laut ist.
Wenn ich mich von außen betrachte, sehe ich mich in meinem Franz wie eine kleine Raupe in ihrem Kokon, geschützt vor dem Außen, ganz zufrieden, versorgt, in Ruhe gelassen … und wachsend. Und auch wenn ich schon so viele Reisen alleine unternommen habe, ist es, als würde ich mit jeder Herausforderung, die ich unterwegs bestanden habe, strahlender. Gelassener. Mit der Welt zufriedener. Mit mir zufriedener.
Die Welt ist unfassbar wundervoll, freundlich und leuchtend bunt. Sie empfängt mich – und dich! – mit offenen Armen und zeigt uns, wenn wir es zulassen, unser schönes Selbst und das wunderbare Sein allein.
Fahr los! Sei frei!
RAUS VON ZU HAUS: WARUM ICH IMMER WIEDER WEG MUSS
Im Gespräch
… MIT ULRICH, …MIT ULRICH, (ALLEIN-)REISENDER, FOTOGRAF, MEDIENSCHAFFENDER UND BULLI-TOURIST
Ulrich ist Bulli-Fan. Mit seinem Van (einem T6 mit Aufstelldach) fährt er in den weiten Süden durch Marokko bis zur Sahara oder in den hohen Norden durch Schnee und Eis bis zum Polarkreis. Allein oder mit seinem Sohn erkundet er gerne möglichst wilde Natur und restauriert nebenbei noch einen alten T3-Westfalia-Bus für zukünftige Abenteuer.