Johnsons Abiturphase erschien zunehmend vom Schmerz der Individuation bestimmt und von einem Wissen um deren Unausweichlichkeit. Dies verraten nicht zuletzt die Zeilen, die der Abiturient an seinem Geburtstag 1952 von einer Chorreise aus Kühlungsborn dem Schulfreund Lehmbäcker gesandt hat:
I.
Der eine sieht ins Abendrot
Und schwärmt für das Ideale.
Der andre kaut sein Abendbrot
Und ist für das Reale.
II.
Nicht alles, was man heiss begehrt,
Ist kühl betrachtet, etwas wert.
Und darum sollte man sich üben
Die Wünsche, die man hat, zu sieben.
Das war ein Anflug frühreif-ironisierten Weltverständnisses, in ganz korrekte Kommasetzung gekleidet. Dann aber folgen jene Sätze, aus denen der Schmerz über die Unausweichlichkeit der Individuation spricht:
Bedauerlicherweise ist der Mensch als Individuum konstruiert und eingerichtet. Dies hindert. Es gelingt höchst selten, diesen unerfreulichen Tatbestand zu einer Art von Gemeinschaft weiterzuentwickeln.
Eben das versuchen Johnsons Abiturientenverse: den unerfreulichen Tatbestand der Individuation »zu einer Art von Gemeinschaft weiterzuentwickeln«. Was ihnen auf Dauer freilich nicht glücken konnte.
Jazz-Rhythmen des »GOING OUTSIDE«, wie sie im Erstling das Aufsprengen der bisherigen Schulgemeinschaft und den Heimatverlust ankündigen, erklingen bereits als Johnsons eigene Absage an die fesselnde Kraft solchen Gemeinschaftsgesangs.
Aus dem Radio kam gelassen und grossartig die tiefe rauchige Stimme eines Mannes announcing AND NOW ... Billie MAY and his orchestra: GOEN OUTSIDE. Hinter ihm begann ein Trompetenchor feierlich Gequältes aufzuführen; dann war da ein Saxophon, das stieg faul und verzweifelt durch ein endloses Treppenhaus, in dem waren alle Türen durchsichtig. (Babendererde, S. 244)
Der Schüler Lockenvitz schließlich wird »schräge Musik« lieben:
Das war der amerikanische Jazz der Frühzeit, gerade per Regierungsdekret von einer Musik der Dekadenz befördert zu insofern fortschrittlich, als entwickelt aus den Arbeitsgesängen zur Zeit der offen betriebenen Sklaverei. Gespräch nach Vorschrift betrieb dieser Junge. (Jahrestage, S. 1726)
Der Jazz als die Aufbruchsmusik der amerikanischen Neger manifestiert einen Kontrapunkt zu Partei-Hymne und gemeinschaftsbildendem Vaterlandslied. Der Jazz als die Oppositionsmusik auch der damaligen DDR. Neben Johnson haben das auch andere Autoren dokumentiert, Fritz Rudolf Fries zum Beispiel in seinem bohemischen Leipzig-Roman Der Weg nach Oobliadooh, also unter bereits frech verjazztem Titel:
Arlecq, immer auf der Suche nach dem Sinn des Daseins, schnitt das Heft in Stücke, klebte sich Armstrong, Stewart, Beiderbecke, Lem Arcons Gesicht, das in der Würde eines seltenen Vogels aus dem Saxophontrichter steigt, an die Zimmerwände und nahm Begriffe wie Jazz, Jive, Swing, Pop und Oldtimer in sein Vokabular auf. Lauschte zur Mitternacht den neuen Klängen aus der nicht entnazifizierten, in nazistischer Verbohrtheit den neuen Wellenlängen feindlich gesinnten Goebbels-Schnauze und blies den Air Lift Stomp auf der Flöte [...] Be-bop ist da und wird bleiben, sagte Paasch, und die Geschichte würde seine voreilige Prognose rechtfertigen. (Fries, Oobliadooh, S. 91)
Der Jazz war für diese Generation die Antwort auf eine zweifache Diktatur. Der Jazz stand für sie gegen die Goebbels-Schnauze ebenso wie gegen die Girnus-Schreibe. Im Jazz standen Synkope und Improvisation gegen die verpflichtend-totalitären Elemente pathetischer Worte und das umschlingende, erstickende Melos, wie sie die von Gesang getragenen Gemeinschaftsveranstaltungen des Staatsapparates kennzeichneten.
Uwe Johnson selbst hat in Leipzig seine Vorliebe für den Jazz (gegenüber dem Freund Klaus Baumgärtner) damit erklärt, daß dies »freche« Musik sei. In Berlin besaß er eine historisch aufgebaute Sammlung von Jazz-Platten. Die weitere Plattensammlung, soweit ich sie aus den Fotografien, die Joachim Unseld im Haus in Sheerness gemacht hat, rekonstruieren konnte, enthielt auch eine Kassette mit den Werken des Johann Sebastian Bach – neben, übrigens, der Martha-Oper des Friedrich von Flotow. Beides ist Musik, die sich durchaus widerspricht. Ihr Widerspruch erscheint als der des Uwe Johnson selbst. Neben den Jazz tritt allerdings in der Babendererde die Musik des Johann Sebastian Bach. Diese Musik pflegt keinerlei unscharfe, romantische Gemeinschaftssehnsüchte. Sie lebt im Gegenteil von ihrem intellektuellen und dialektischen Zuschnitt. Die durchgeführte Kontrapunktik dieser Musik in den Formen von Fuge und Kanon; den Rückgriff auf den protestantischen Choral; die Synthese eines harmonisch bestimmten Konzertstils mit einer linear geführten Vielstimmigkeit: Der junge Johnson hat sie als derart angemessen empfunden, daß er sie in der Babendererde interpretiert hat:
Das war eine sehr sonderbare Musik, die war so inständig zuversichtlich. Es war für Ingrid als habe diese Musik etwas durchaus Gewisses vor, als gehe sie geduldig immer wieder herum um diesen bestimmten Vorsatz von Heiterkeit, unablässig wissend von der Sicherheit der Ankunft und aufgehoben in lauter Wohlmeinen. [...] Als die Musik wieder anging, war ihr plötzlich als sei es nun in ihr und ganz in ihr; sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und richtete sich auf; nun war sie ganz unruhig. (Babendererde, S. 228)
In einer der überlieferten, aber bislang unveröffentlichten Frühversionen des Erstlings findet sich auch die Beschreibung eines Konzertbesuchs, verbunden mit Ingrid Babendererdes Analyse dieser Musik. Das Heitere und Wohlmeinende der Bachschen Musik gerät zur Chiffre des Aufbruchs. Bach hörend, wird Ingrid unruhig vor Sehnsucht nach Neuem und Anderem unter der Sonne dieses heißen Mais, die so viel Neues zur Reife bringt. Der Leipziger Student Johnson führte 1956/57 die umworbene Tochter des Dekans in ein Bach-Konzert. Zu einer Bach-Diskussion trafen sich schließlich auch – um das Jahr 1955 – die Leipziger Freunde Johnsons. Uwe Johnson hat es, dem Freund Manfred Bierwisch zu Ehren, in seinem besten »Export-Englisch« niedergeschrieben:
We may never have been on file as people (»an association«) who congregate from various quarters of Leipzig to sit up nights and discuss whether J. S. Bach, in his Musical Offering of 1747, may have hidden a message.
Mit Blick auf die »verborgene Botschaft« mag es den Freunden um die Frage gegangen sein, wieweit das Musikalische Opfer – Bach hatte es 1747 am Hof Friedrichs des Großen geschrieben und dem Monarchen gewidmet – als eine »preußische« Musik aufgefaßt werden konnte. Doch konnte man dieses Heitere tatsächlich mit dem »Preußischen« identifizieren? Oder lag darin nicht eher eine Emanzipation des protestantischen Individualismus aus den Banden des barocken Melos vor?
ZWEITES KAPITEL
STUDIUM IN ROSTOCK.
UWE JOHNSONS »GUTE MUTTER«
UND EINE ERSTE LIEBE
_____________
ROSTOCK