Nicht zuletzt die Tatsache, daß Güstrower Schüler in den Jahren 1951 und 1952 an Material wie dem zitierten für ihr Abitur haben lernen müssen, wurde Uwe Johnson zum Schreibantrieb für die uns bekannte, deutlich politisierte Fassung der Babendererde. Und nicht nur hierfür: Da der Erstling zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, wird er im Abschlußband der Jahrestage die Schulgeschichte noch einmal neu und anders schreiben. Sie wird dann vollends zeigen, daß in der Güstrower Abiturs-Realität von 1952 es paradoxerweise jene leichter hatten, die zuvor schon von den Nazis indoktriniert worden waren.
DER ABITURAUFSATZ: VON LENIN ÜBER SHDANOW UND
LUKÁCS BIS ZU WALTER ULBRICHT
Folgende deutschlandpolitische Situation stellte den Hintergrund für Johnsons Abituraufsatz: Im März 1952 waren die sowjetischen Vorschläge zu Friedensverhandlungen für ein wiedervereinigtes Deutschland von den Westmächten zurückgewiesen worden. Der Abiturient Johnson verfolgte den Fortschritt bzw. Nicht-Fortschritt dieser Verhandlungen. Las, wie er in den Begleitumständen berichten wird, fiebrig Zeitung. Die Bundesrepublik hatte im gleichen Monat Mai (der also auch deutschlandpolitisch ein heißer war) den Deutschlandvertrag abgeschlossen, mithin ihren Beitritt zur Nato erklärt. Was bedeutete, daß die SED nun ihrerseits die eigenständige Entwicklung der DDR im Sinne eines eigenständigen sozialistischen Staates forcierte. Johnsons Reifeprüfung fiel zudem in die Vorbereitungsphase zur 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Dort wurde die neue Politik in Richtlinien gefaßt und der planmäßige Aufbau des Sozialismus mitsamt der Kollektivierung der Landwirtschaft und des verstärkten Ausbaus der Schwerindustrie beschlossen. Ferner auch der »verschärfte Klassenkampf« gegen die Kirchen und ihre Organisationen. Als weitere Gegner wurden der bürgerliche Mittelstand und dessen Intellektuelle namhaft gemacht. Schulen und Hochschulen beanspruchte die Staatspartei jetzt verstärkt als die Gelenkstellen der von ihr gewünschten Ideologievermittlung. Dabei kam selbstverständlich der FDJ eine zentrale Rolle zu. Bis 1953 sollten alle diese Beschlüsse verwirklicht sein. Der Student Johnson wird ihnen in Rostock erneut begegnen.
Im Mai 1952 schrieb Uwe Johnson seinen Abituraufsatz, und möglicherweise siedelt der Reifeprüfungsroman Ingrid Babendererde das Abitur in memoriam realitatis just in der Woche zwischen dem 26. und dem 30. Mai an. Die Themenstellung zielte aufs Eigentliche und lautete: Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln (Lenin). Unverblümt verpflichtete das Lenin-Motto zu einer Stellungnahme gegen den »Formalismus« und »Kosmopolitismus« in der Kunst. Darüber hinaus sollte der Aufsatz sich auf die aktuelle kulturpolitische und überhaupt politische Lage der DDR beziehen. Der Abiturient Johnson fertigte, wie es sich gehört, dazu eine »Disposition«, gewidmet der »Lage der Kunst in der DDR«. Die »Ausführung« dann griff das vorgegebene Lenin-Zitat auf, indem sie es durch Absätze unterteilte in die Aspekte 1. Volkstümlichkeit, 2. Notwendigkeit positiver Perspektive und 3. gewünschte Erweckung schöpferischer Fähigkeiten bei den Massen. Als »Schluß« fragte der Schüler rhetorisch: »Welche Aufgaben ergeben sich aus diesen Forderungen für unseren Kampf um eine realistische deutsche Kunst?« Um dann die geforderte Parteilichkeit unter Beweis zu stellen. Diese erschien ihrerseits sorgfältig gegliedert: »Erstens«, »Zweitens«, »Drittens« und »Viertens«. Auf die Analyse der Wirklichkeit habe die Aneignung des »Erbes« zu folgen. Darauf das Studium der »Volkskunst« und dann, viertens und apotheotisch abschließend, das Studium der Kunst in der »sozialistischen Sowjetunion [...], die es in vorbildlichem Maße versteht, die Menschen für den Aufbau und Schutz ihrer Heimat zu begeistern«.
Johnsons Aufsatz war gleichsam als ein doppelter angelegt. Er enthält eine Anzahl von Klammern, die ihrerseits, je nachdem, ob man ihren Inhalt nun mitliest oder nicht, zwei verschiedene Textfassungen ergeben. Beide Versionen erweisen sich dabei in syntaktischer sowohl wie in grammatikalischer Hinsicht als vollständig und »richtig«. Wie der fast 18jährige diese beiden Texte ineinander gearbeitet hat, zeigt seine Sprachbeherrschung. Ein Beispiel:
Jede dieser beiden Richtungen behauptet, (die) schöpferisch(e) zu sein. Kann eine Kunst, die (eine Kraft der) Kriegshetze und (der) Unterdrückung freien Menschentums unterstützt, auch nur im mindesten Anspruch darauf erheben, schöpferisch zu sein?
Schülerhaft scheint daran allenfalls noch, daß diese Sprachbeherrschung auf solche Weise demonstriert werden sollte – zumal beide Textversionen in ihrer Aussage kongruent sind.
Der Abiturient Johnson berief sich nicht ausschließlich auf Lenin. Sondern weiterhin auch auf Stalins Hauptfachmann in aestheticis, Alexej Shdanow, den Erfinder jenes goldenen Wortes, dem zufolge man im Dichter einen »Ingenieur der menschlichen Seele« zu erblicken habe. Shdanows Schrift »Über Kunst und Wissenschaft« war gerade 1951 in einer Massenauflage erschienen. Der Band enthielt zwar alte Texte, entstanden bereits zwischen 1934 und 1948, gleichwohl markierte sein Erscheinen die Übernahme der stalinistischen Kunstbetrachtung durch die Führung der DDR. Weiterhin lag seit demselben Jahr die Sammlung von Äußerungen zu Kunst und Literatur von Marx und Engels (in der Babendererde wird die DDR in karikierender Anlehnung an die Physiognomie dieser beiden das »Land der Bärtigen« geheißen) im Aufbau-Verlag vor. Johnsons einleitende Anrufung des Alexej Shdanow glich einer quasireligiösen Eröffnung. Er stellte seinen Tribut an die große Sowjetunion dar, die den Faschismus besiegt hatte, war aber keineswegs nur als Taktik eines Schülers zu verstehen, der das Abitur gut bestehen wollte. Der vormalige »Jungmann« Uwe Johnson kannte Shdanows Kunstkonzept in dessen Mischung aus »Volkstümlichkeit« und Widerstand gegen den »kosmopolitischen Formalismus« ja eigentlich bereits, stimmte es doch wesentlich mit dem überein, was er einst in der »Heimschule« gelernt hatte.
Der Abituraufsatzschreiber wandte sich in seiner »Einleitung« dann dem zu, was er die DDR-deutsche »realistische Kunst als Teil des Überbaus« nannte. Dabei fallen die Namen Becher, Brecht, Seghers, Willi Bredel und Friedrich Wolf, wobei die Reihung nicht alphabetisch gehalten ist, was wiederum auf eine Rangfolge in der damaligen Wertschätzung dieser Künstler durch den Schreibenden selbst hindeuten mag. Daneben verweist die Auswahl dieser Namen (und vor allem auch die Nennung von Stephan Hermlins Manfelder Oratorium) darauf, daß im Unterricht der Text der Zentralkomitee-Entschließung zum »Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur« eine Rolle gespielt haben muß. Auch am Zustandekommen dieses vom Zentralkomitee am 17. März 1951 verabschiedeten Dokumentes hatte Girnus »verdienstvoll« mitgewirkt. Es lautete:
Kulturelle Erfolge in der Deutschen Demokratischen Republik.
Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands stellt fest, daß in der Deutschen Demokratischen Republik auch auf dem Gebiet der Kunst und Literatur Leistungen erzielt wurden, auf die alle fortschrittlichen Deutschen mit Recht stolz sind. Dazu gehören die Werke der Schriftsteller und Dichter Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Bernhard Kellermann, Friedrich Wolf und Willi Bredel, Erich Weinert, Hans Marchwitza, Bodo Uhse, Stephan Hermlin, Kurt Bartel (Kuba), Alfred Kantorowicz, die während der Emigration oder nach 1945 geschrieben und in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Diese Werke haben an der Bewußtseinsänderung des deutschen Volkes einen bedeutenden Anteil. [...] Mit dem Mansfelder Oratorium haben seine Schöpfer ein Werk geschaffen, das einen besonderen Platz im kulturellen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik einnimmt.
Auch das hatten die Schüler also lernen müssen. Daher rühren die von Johnson genannten Namen. Weiterhin hatten Johnson wie seine Mitabiturienten gelernt, daß man sich für den Kampf gegen den »Formalismus« am besten jenes kanonisierten Engels-Ausspruches bediente, der lautete: »Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen.« (Engels an Margaret Harkness, April 1888) Bei Engels schien andererseits aber nicht angelegt, was die faschistische und die »marxistische« Kunstanschauung in der Argumentation zusammenführte: der Vorwurf nämlich, daß der »kosmopolitische Formalismus« »zersetzend« wirke. Der Ausdruck »zersetzen« findet sich in einem ZK-Beschluß (»Der Formalismus bedeutet Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst«) ebenso