Indes gehört die Stadt Rostock kaum in die Reihe der Städte, die prägnante Spuren im Werk Johnsons hinterlassen haben. Ein einziges Mal nur nennt er, der sich durch die Summe der Flüsse definieren konnte, in denen er schwamm, die Warnow – in den Jahrestagen, und da ohne jede Konnotation zu der Stadt. Die Rostocker Straßenbahnhaltestellen im Babendererde-Manuskript hat Johnson im Verlauf der Überarbeitung getilgt und dafür durchgängig die Silhouette Güstrows eingesetzt. Just als der angehende Student in die Hafenstadt kam, war die Ostseestadt zu einem eigenen Bezirk erweitert worden. Die damalige DDR-Verwaltungsbezirksreform hatte das vormalige nördliche Mecklenburg und Vorpommern zusammengefaßt. So geriet Johnson in die größte Stadt Mecklenburgs mit damals rund 200 000 Einwohnern und zugleich in die größte Hafenstadt der DDR mit der bedeutenden Neptun- und Warnow-Werft. Neben rund 200 mittelständischen Betrieben erhoben vor allem diese beiden Werften und das Dieselmotorenwerk mit zusammen knapp 20 000 Arbeitsplätzen Rostock zu einer Industriestadt. Rostocks Innenstadt, wie immer durch die Bombenangriffe des Jahres 1942 noch schwer beschädigt, zeigte sich mit Bauwerken der Backsteingotik (Marienkirche aus dem 13. Jahrhundert; Nikolaikirche aus dem 14. Jahrhundert; Petri- und Jakobikirche aus dem 15. Jahrhundert und das sehr schöne, wundervoll proportionierte Rathaus aus dem gleichen Säculum) ausgezeichnet. Die Stadt, späteres Hansemitglied, war im Jahr 1189 neben einer wendischen Burg gegründet worden. Das mag das seine zur Namensgebung »Wendisch Burg« beigetragen haben, in der Ingrid Babendererde, der Roman entstand ja zum größten Teil in dieser Stadt, wobei kein Zweifel daran bestehen kann, daß »Wendisch Burg« Güstrow »ist«.
Spätestens im Mai des Jahres 1952 muß Uwe Johnson beschlossen haben, in Rostock zu studieren. Der Entschluß war ein Kompromiß: Zwar ging der Student von zu Hause fort, aber doch nicht allzuweit. Noch einmal erwartete den Güstrower das Schicksal des »Fahrschülers«. In einem Brief an die Recknitzer Lehrerin Frau Luthe malte er das in moderater Überzeichnung aus:
Morgens um 5 Uhr stehe ich auf, stehe eine Stunde Bahnfahrt ab [...], schlafe (auf mecklenburgisch: »düse«) in der Vorlesung vor Müdigkeit und Nervosität [...], fahre um 21 Uhr nach Hause, bin um 22 Uhr da, arbeite bis 24 respektive bis 1 Uhr. Morgens um 5 stehe ich auf usw.
Die Existenz der Rostocker Universität ging auf einen Gründungsakt vom 13. Februar 1419 zurück, der seinerseits einen frühen Klassenkompromiß darstellte: Der adlige Landesherr stellte in der Regel den Rector magnificentissimus, während ein – aus akademischen oder bürgerlichen Kreisen stammender – amtierender Rektor die Amtsgeschäfte führte – eine Verfassung, die ihrer Zeit für deutsche Verhältnisse weit voraus war. Die Reeder und Großkaufleute der Stadt mit ihren Handelsverbindungen nach Skandinavien und bis in das Italien der Renaissance hatten dies federführend erreicht. Immerhin: Ulrich von Hutten hielt von 1509 bis 1512 Vorlesungen in der Hafenstadt, und nach ihm, 1598, Tycho de Brahe, der berühmte Lehrer des nachmals noch berühmteren Johannes Kepler. Dennoch hatte, nach damaligem DDR-Urteil, die Universität nicht allzuviel zum Befreiungskampf des deutschen Bürgertums beigetragen. Ihr Studentenleben habe sich zuallererst durch Nachtwächterskandale, Duelle und Reibereien mit dem Militär hervorgetan. So jedenfalls stand es im damaligen Studienkatalog geschrieben. Und nun eine Universität im Umbruch: Im Vorlesungsverzeichnis wurde der neue Studiosus mit entsprechend klassenkämpferischen Zeilen empfangen:
1946 begann das erste Semester unter den Bedingungen der sich festigenden antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft wurde das Institut für Slawistik gegründet. Wenige Tage später erfolgte dann die Einrichtung der Vorstudienanstalt, wodurch nach jahrhundertelanger Unterdrückung den Arbeitern und Bauern Mecklenburgs die Tore der Universität weit geöffnet wurden.
Im Herbst des gleichen Jahres eröffnete die Pädagogische Fakultät mit 148 Studenten den Lehrbetrieb zur Heranbildung von wissenschaftlich qualifizierten Fachlehrern für die Grundschule. An der Demokratisierung der Studenten, an dem Aufbau aller erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen und der Schaffung von wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften innerhalb der Fakultäten nahm der erstmalig im Oktober 1946 gewählte Studentenrat großen Anteil [...] Wichtige Etappen waren die am 4. Oktober 1949 erfolgte Eröffnung der Arbeiter- und Bauernfakultät, die aus der Vorstudienanstalt hervorging, sowie die Errichtung der Technischen Fakultät für Schiffbau am 26. Mai 1951, deren Studenten zum Teil Arbeiter in volkseigenen Werften gewesen waren. Am 1. September 1951 erfolgte die Eröffnung einer Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät [...] Die enge Verbundenheit der Universität mit den Werktätigen kommt in den Freundschaftsverträgen mit der Warnowwerft und den Maschinenausleihstationen Roggentin und Klein-Kussewitz zum Ausdruck sowie in der Tatsache, daß die Universitätsbibliothek in Ausleihe und Lesesaal auch an mehreren Abendstunden den Werktätigen zur Verfügung steht. Die Zahl der Studenten betrug am 1. April 1946 etwas mehr als 500. Am 1. September 1946 studierten bereits annähernd 1000 Studenten in Rostock, von ihnen waren 13% Arbeiter- und Bauernstudenten. Zwei Jahre später betrug die Zahl der Studenten fast 1500, unter ihnen waren bereits 25% Arbeiter- und Bauernstudenten. Im Studienjahr 1951/52 studierten an unserer Universität über 2000 Studenten, der Anteil der Arbeiter- und Bauernstudenten ist auf 42,5% gewachsen; 85% aller Studierenden erhielten ein Stipendium [...] Aber noch wichtiger war der Beschluß der II. Parteikonferenz der SED über den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. In Erfüllung der darin gestellten Aufgaben werden unsere Universitäten und Hochschulen eine Intelligenz heranbilden, die durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Forschung und Lehre am Aufbau des Sozialismus mitarbeitet.
Diese Zeilen standen über Johnsons Eintritt in die akademische Welt. Sie wiesen aber auch schon auf das Ende hin. Denn die darin erwähnten Maschinenausleihstationen würden sich später, nach 1956, unter jenen zahlreichen Institutionen befinden, die eine Bewerbung des Absolventen Johnson, »Kultureller Beirat« hätte er hier werden können, ablehnen würden.
Der angehende Student fand in Rostock eine Konkurrenz zwischen »bürgerlichen« und linientreuen, oder, wie die Studenten sie nannten, »bonzigen« Lehrkräften vor. Uwe Johnson würde sich vor allem an Hildegard Emmel und an die »bürgerliche« Fraktion halten, was keineswegs nur wissenschaftlich-politische Gründe hatte. Im Alltag jedenfalls koexistierten die beiden Lager noch. Ein Schreiben des FDJ-Mitglieds Johnson an das Rostocker Prodekanat aus dem Jahre 1952 ist ganz selbstverständlich mit dem FDJ-spezifischen Gruß »Freundschaft« unterzeichnet.
Ein bevorzugtes Mittel der Einbindung und ideologischen Schulung des einzelnen Studenten gab die »Seminargruppe« ab. Unter der Rubrik »Formen des akademischen Unterrichts« stand: »Diese Seminargruppe bildet eine feste organisatorische Einheit, die eine kontinuierliche Erziehungsarbeit ermöglicht.« (Namen von Spitzeln aus der Rostocker Seminargruppe finden sich unverändert in den Mutmassungen wieder.) Wie seine Kommilitonen mußte auch Uwe Johnson sich einem »gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium« mit recht ausgreifender Zielsetzung unterwerfen:
Das gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium bildet die Grundlage des gesamten Studiums. Es hat die Aufgabe, den Studierenden die Einsicht in die Entwicklungsgesetze von Natur und Gesellschaft zu vermitteln, dadurch ihre Leistungen in den Spezialfächern zu erhöhen und sie zu befähigen, bewußt am nationalen Befreiungskampf des deutschen Volkes teilzunehmen.
Daneben hatte er obligatorische Kurse in russischer Sprache und Literatur zu belegen. Sie sollten ihn befähigen, die Ergebnisse der »fortgeschrittensten Wissenschaft«, der »Sowjetwissenschaft«, zu rezipieren. Johnsons Note in russischer Literatur vom 12. Juni 1953 bestand in einem »Sehr Gut«. Dem Sport, der ebenfalls obligatorisch war und der dem Motto: »Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Friedens« unterstand, konnte Johnson entgehen, besaß er doch das Güstrower Schularztattest. Johnson selbst:
Gegen den Schüler ist in Einwand zu bringen, dass er sich von einem approbierten Arzt eine »vegetative Dystonie« bescheinigen liess,