Diesen unseren Lockenvitz suchten wir aus, als die Elf A Zwei plötzlich jemanden abstellen sollte für einen Lehrgang der F.D.J. in Dobbertin bei Goldberg. [...] Dann fragte Pius, wie es ihm zustand als Leiter der Klassengruppensitzung: was denn der Kandidat über so einen Ausflug denke. – Als Organisationssekretär der Z.S.G.L. muß man in einem fort die Erweiterung der Kenntnisse in der Theorie im Auge haben: antwortete der wie jemand, der will uns ein Opfer bringen. Zweite Abstimmung: einstimmig, wie es für schick galt. [...] Das Ende in Dobbertin, er hat es für sich behalten.
Es wird so gewesen sein, daß einer der Instruktoren besser Bescheid wissen wollte über das dritte Grundgesetz der Dialektik; das kann einem eine ungünstige Schlußnote einbringen und statt eines »Abzeichens für Gutes Wissen« in Gold eines in Bronze. (Jahrestage, S. 1728 f.)
– Das dritte Grundgesetz der Dialektik handelt übrigens vom notwendigen Umschlagen der Quantität in die Qualität. Es mußte damals zur Begründung der Notwendigkeit revolutionärer Umwälzungen, zur Kritik des »Reformismus« und der SPD, herhalten. Johnson hat ihm gar ein längeres Gedicht gewidmet, in einem Brief an seine Recknitzer Lehrerin Charlotte Luthe und unter dem Titel »Ein Elefant, die Funktion des Denkens und das dritte dialektische Grundgesetz«. Dort heißt es u. a.: »Das dritte Gesetz ist bewiesen/ein Dummkopf, der das nicht sieht!/Der Marxismus sei gepriesen!/Wir singen zum Abschied ein Lied.«
Hinzu kam, daß der Organisationsleiter Johnson auch das allen Schülern auferlegte Einsammeln von feindlichen Kartoffelkäfern allzu nachlässig, zudem ungläubig betrieb. Photos vom sogenannten Kartoffelkäferprozeß zeigen diesen Unglauben noch heute. Es handelte sich um eine satirische Aufführung, bei der man die subversiven Tierchen, an Haken aufgehängt, vorwies – eine Praxis, die so unweigerlich wie unheimlich an die Fleischerhaken erinnert, an denen Hitler die Verschwörer des 20. Juli vom Leben zum Tode hatte befördern lassen.
Und Lockenvitz wurde uns kenntlich zumindest als Sohn eines Biologen, mit dem ging ein Andenken durch, als er sagte: Ha! diese schlauen Imperialisten! Der Kartoffelkäfer überwintert in zwei Handbreit Bodentiefe und erscheint, sobald die Temperatur über zehn Grad anzeigt. Also Anfang Mai. Wann ist das Deutschlandtreffen? Ende Mai [...] Wenn sie hier gedeihen, dann weil die Bodenreform die Knicks abgeschlagen hat, in diesen Hecken saßen nämlich Vogelnester, darin hinwiederum die Vertilger dieses Quarantäneschädlings! (Jahrestage, S. 1726 f.)
In diesem Bereich mochte es möglich gewesen sein, mit Argumenten die eigene Skepsis zu behaupten.
Doch Johnsons Funktion besaß durchaus auch unangenehmere, ernsthaftere Seiten. Am 12. Juli 1951 unterschrieben Uwe Johnson – als »Organisationsleiter« – und sein Klassenkamerad und Mit-Funktionär Fritz Möllendorf für den »Zentralen Schulvorstand der Schulgruppe John Brinckman« das folgende Gutachten zur Beurteilung der gesellschaftlichen Tätigkeit des Jugendfreundes Peter Zollenkopf:
Der Jugendfreund Peter Zollenkopf ist seit 1949 Mitglied unseres Verbandes. Er ist Träger des Abzeichens für Gutes Wissen in Bronze. In seiner bisherigen Mitarbeit hat Peter sich nicht genügend bemüht, dieses Wissen anzuwenden. Er zeigt auch nicht immer die Haltung, die ein Abzeichenträger in der gegenwärtigen Situation einnehmen müsste. An kollektiven Aufgaben beteiligt er sich. Peter muß auch weiter bei seiner ideologischen Festigung angeleitet werden.
Der so Beurteilte hatte allerdings selbst um diese Einschätzung gebeten, seine Chancen in der »Demokratischen Republik« zu testen.
Andererseits schrieb Johnson als der Leiter der gleichen »Z.S.G.L.« für seinen Schulkameraden Hans-Jürgen Schmidt eine diesem dienliche Beurteilung. Schmidt, Sohn der Schweriner Musikalienhandlung »Schmidt & Sohn«, wollte, obwohl ein »Bürgerlicher«, Musik studieren. Schmidt hatte vom anderen FDJ-Sekretär der Schule, Fritz Möllendorf, zuvor ein negatives Gutachten erhalten. Sein erstes Gutachten hätte Schmidt jegliche Chancen genommen, wenn es denn zum Zuge gekommen und nicht erfolgreich von einem Mit-Funktionär konterkariert worden wäre. Uwe Johnson brachte es tatsächlich fertig, das Papier und den nötigen Stempel für eine brauchbarere Beurteilung kraft seiner eigenen Funktion als stellvertretender FDJ-Sekretär illegal aufzutreiben. Solche Handreichung stellte einen nicht ungefährlichen Akt des Widerstandes dar, ist um so erstaunlicher, stellt man Uwe Johnsons damals ganz zweifellos vorhandenen Willen zu einem persönlichen Neuanfang in Rechnung.
In anderen Zusammenhängen blieb Johnson wenig mehr denn die Rolle des ohnmächtigen Opfers. Im Frühjahr 1950 wurde der Schüler Johnson mit dem Ministerium für Staatssicherheit, vulgo Stasi, bekannt. Von einem FDJ-Treffen in Berlin, die Grenze war damals noch offen, hatten Mitschüler politische Flugblätter mit nach Güstrow gebracht. Darauf folgte ein Schulbesuch der besonderen Art. Er ist im vierten Band der Jahrestage beschrieben:
Wir sind vom M.f.S. aus der Geschwister-Scholl-Strasse in Schwerin; wir kümmern uns um jene Flugblätter, die heute nacht im Bahnhof Gneez ankamen und ausgehändigt wurden an insgesamt vier Verteiler. (Jahrestage, S. 1674)
Der subversive Akt führte zu Verhaftungen, Vernehmungen, Verurteilungen. Johnson, verliebt zudem in eine der Verhafteten, was die Sache zusätzlich verkomplizierte, war gleich mehrfach betroffen, stand einmal mehr zwischen zwei Loyalitäten. Er war FDJ-Funktionär, und das nicht aus Opportunismus. Ungeachtet dessen suchte er den Aufenthaltsort der Verhafteten aufzuspüren. Die hörten ihn im Nebenraum Erkundigungen einziehen. Auch dies findet sich, wiederum am Beispiel des Lockenvitz, in den Jahrestagen beschrieben. In der Schulleitung seiner Brinckman-Schule vermutete Johnson Informanten für die Stasi. Gerade also durch seine Tätigkeit in der »Kampfreserve der Partei« wurde Johnson aus nächster Nähe mit jener totalitären Art bekannt, mit der die SED ihre Herrschaft rigoros befestigte.
Nach Beendigung des Dobbertiner Lehrgangs rückte der Güstrower aus der Funktion des Organisationsleiters seiner Klassengruppe in die des Organisationsleiters der Zentralen Schulgruppe auf. Auch stellte er den Zirkelleiter des Kreises, der sich dem Studium des gesellschaftlichen und staatlichen Aufbaus der Sowjetunion widmete. Erst seine Abiturvorbereitungen setzten dieser Tätigkeit ein nun bereits sehr willkommenes Ende. Im September 1951 schied Johnson aus seinen Funktionen aus, nicht aber zugleich aus der FDJ, was er selbst wiederum für sein Alter ego Lockenvitz geschildert hat:
Zu Beginn des Schuljahrs 1951/52, aufgestellt zu einem zweiten Turnus als Org.-Leiter, schlug er die Kandidatur aus; Begründung: Förderung seiner schulischen Leistungen. [...] Er stand auf Eins in Latein, Englisch, Deutsch, Gegenwartskunde, auf Zwei in den übrigen Fächern, bis auf die Drei in Chemie, ihm lästig wie eine Zecke. (Jahrestage, S. 1731)
Uwe Johnson verstand seine Mitgliedschaft in der FDJ als Engagement zur Verbesserung der Gesellschaft. Sie mochte teils auch aus der jugendlichen Opposition dem eigenen Elternhaus gegenüber resultieren und verweist doch auf die Prägekraft des Antifaschismus als ideologische Ausrichtung zumindest der frühen DDR. Des Oberschülers Kritik an diesem Staat und seinen Institutionen war folglich nicht als prinzipielle, sondern als eine solidarisch-moralische zu verstehen. Uwe Johnsons FDJ-Karriere muß ihn bei mannigfachen Gelegenheiten mit dem Direktor der Schule zusammengeführt haben. Deutlicher als andere erlebte er dabei die Schwächen der Leitenden. Mit der FDJ gebrochen hat Uwe Johnson erst im April des Jahres 1953 in Rostock. Formal ausgetreten aus der FDJ ist er hingegen nie, wie immer man dazu auch anderes lesen kann.
DER DEUTSCHUNTERRICHT AN DER »NEUEN SCHULE« ODER
DIE TOXISCHE WIRKUNG DES »BLONDEN GIFTS«.
UWE JOHNSONS ERSTE LESUNG
Dem Deutschunterricht kam bei der Vermittlung der richtigen sozialistischen Weltanschauung und des Marxismus zentrale Bedeutung zu. Die Lehrerin dieses Fachs an der Güstrower »Neuen Schule« war, in der