Uwe Johnson. Bernd Neumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Neumann
Издательство: Bookwire
Серия: eva digital
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783863935047
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und sie zu halten, ihm ausgeliefert sind mit Leib und Bewußtsein, um sich von seiner Strenge stützen lassen zu dürfen. [...]

       Dies aber war Fünfeichen, vier Kilometer vom Stargarder Tor; noch 1944 hatte er in dieser Gegend für die Briten nicht nur den Fliegerhorst Trollenhagen ansehen sollen, auch wie die Deutschen in Fünfeichen ihre Kriegsgefangenen hielten. Wenn er seinen Augen trauen wollte, war er im alten Südlager von Fünfeichen, in der Baracke 9 oder 105, neben dem Stacheldraht des Gemüsegartens, nach Burg Stargard hin, und im Norden war der eingezäunte Komplex der Werkstätten und Kammern wie auf seiner Zeichnung von damals. (Jahrestage, S. 1287 f.)

      Diese Passage übrigens ist eine direkte Thomas Mann-Anleihe, dessen Tristan-Erzählung mit dem Satz beginnt: »Hier ist ›Einfried‹ das Sanatorium!«, um im zweiten Abschnitt fortzufahren: »Nach wie vor leitet Doktor Leander die Anstalt.« Johnson selbst wird in seiner Rede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises im Jahr 1979 von dem »verwandelten Zitat« aus einem »Anfang« bei Thomas Mann sprechen. Wer vergleicht, was oben zitiert wurde, begreift, warum.

      Erich Johnson wird das Lager Fünfeichen im Frühsommer 1945 kennengelernt haben. Danach, im September des Jahres, muß er noch in ein Lager nach Frankfurt an der Oder deportiert worden sein. Dies war seine letzte Station auf deutschem Boden. Von hier aus wahrscheinlich wurde er in ein Internierungs- und Arbeitslager in den Nordwesten der Ukraine verbracht, nach Kowel, einer Stadt mit ca. 30 000 Einwohnern, die zur Hauptsache in den dortigen Gerbereien und Tabakfabriken arbeiteten. Von Erich Johnsons Ende wissen wir nur, was der Mithäftling Paul Rammin nach seiner Rückkunft zu Protokoll gegeben hat:

      Nach der Besetzung der Stadt Anklam musste ich noch bis zum 25. Mai 1945 bei den Russen arbeiten. An diesem Tage wurde ich im Amtsgerichtsgebäude festgesetzt. Ende Juni 1945 kam ich von hier nach Rußland. Am 1. September 1945 kam ich mit einem großen Transport [mit, und] lernte ich im Lager von Frankfurt an der Oder den Milchkontrolleur Erich Ernst Wilhelm Johnson kennen. Dieser war geboren am 26. Juli 1900. Während des Krieges war er bei der Molkerei in Anklam beschäftigt. Er wurde ebenso wie ich nach der Besetzung der Stadt Anklam verhaftet. Auf dem Weitertransport nach Kowel war ich mit Johnson ständig in demselben Waggon. Während der Reise wurde er krank. Er litt an Wassersucht. Er sah verschiedentlich im Gesicht infolge der Krankheit entstellt aus. In Kowel arbeitete Johnson noch einige Zeit. Als sein Zustand sich stark verschlechterte, blieb er kurze Zeit in der Unterkunft. Hier starb er dann in den ersten Monaten des Jahres 1946. Den Tag vermag ich nicht mehr anzugeben. Es wird im Monat März gewesen sein. Eines Morgens, als wir zur Arbeit austraten, sah ich mich nach Johnson um. Da bemerkte ich, daß er tot auf seinem Lager lag. Bei der Beerdigung war ich nicht zugegen. Johnson befand sich in Kowel, Bataillon 444.

       Unter Hinweis auf 156 des Reichsstrafgesetzbuches versichere ich an Eides Statt, daß ich die oben genannten Angaben nach besten Gewissen und Gewissen gemacht habe.

       Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

      Siegel

       gez. Paul Rammin

       Geschlossen.

       Der Standesbeamte

       gez. Gulker

      Der Sohn hatte die Zeugenaussage in seinen Papieren. Noch der Student muß angenommen haben, daß sein Vater im Jahr 1947 verstorben war. Später, womöglich erst nach dem Tod seiner Mutter 1963, hat er das zutreffende Datum in Erfahrung gebracht. Aus Erna Johnsons Nachlaß kann er die Aussage Paul Rammins übernommen haben.

       JUGEND UND SCHULBESUCH IN

       RECKNITZ UND GÜSTROW.

       DER ABITURIENT

      _____________

      NEUANFANG IN RECKNITZ AN DER REGNITZ

      Die Familie des Internierten setzte nach dessen Verhaftung ihr Leben bei den Verwandten in der Recknitzer Schmiede fort. Dieser Krieg war für sie zu Ende. Der »Führer« hatte sich am 30. April erschossen. Am 2. Mai ergab sich seine Hauptstadt den sowjetischen Siegern. Das Dorf Recknitz trennen ziemlich genau zehn Kilometer von Güstrow. Auf einer Anhöhe gelegen, wird es von einer sehr schönen, heute wieder renovierten Kirche beherrscht. Nur wenige Kilometer entfernt findet sich das größere Weitendorf, ein Name, der in der Babendererde wiederkehren wird. Etwa einen halben Kilometer weiter liegen Schloß und Gut Rossewitz, von Recknitz aus gesehen hinter einem Gemeindewald. Hier erblickte der Knabe die bereits zitierten Bilder massenhaften Typhustodes. Uwe Johnson hat sich darüber hinaus (in den Begleitumständen) an diese Zeit und an diese Gegend ausführlich erinnert:

      Das Dorf war bedrängt von zivilen Flüchtlingen aus der östlichen Richtung, widerliche, unbequeme Mahnung waren sie an die so geläufig im Gebete bezeugte Tugend der Nächstenliebe, eine Gefahr für den Wohnraum, selbst für die Gute Stube, für die eigenen Vorräte an Mitteln zum Leben (was im Mecklenburgischen, als »läven«, ein Wort ist auch für das Essen). An den Sonntagen dieses Frühsommers ist die Kirche dicht besetzt, hier wollen die einheimischen Bauern den Flüchtlingen ihre Frömmigkeit etwas weniger kostspielig beweisen, so wie diese ihnen vorzuführen gedenken, dass sie immerhin in der Innigkeit des Glaubens gleichgestellte Personen sind. Was aber hat der Pastor, der Ergebung predigt in Gottes unerforschliche Fügung, was für Ratschläge hat dieser verkleidete Mann noch im Januar gegeben? Eine ungehörige Frage, für Kinder. [...] Hört man die Erwachsenen, so ist Manches erhalten von des Wahnsinnigen Verdienst. Die Initialen seines Grusses waren auf jeweils den achten Buchstaben des Alphabets gefallen; Freunde in der Gesinnung verständigten einander nunmehr mit dem Ruf: »Achtundachtzig!« (Begleitumstände, S. 28)

      Hieran wird eine Differenz zwischen den Erwachsenen und dem Kind deutlich. Sie muß sich noch dadurch verschärft haben, daß die Verwandten die Niederlage noch immer nicht wahrhaben wollten. Dabei hatten, wie sich Joachim Meier, ein Schulfreund Johnsons aus der Recknitzer Zeit, erinnert, die französischen Zwangsarbeiter des Dorfes beim Einmarsch der Russen die Trikolore gehißt und so eine Schutzzone für die Deutschen geschaffen. Bei dem von Johnson erwähnten Pfarrer, dem »verkleideten Mann«, handelte es sich um den Pastor Kruse. Die Dorfjugend nannte diesen Mann wegen seines deutsch-zackigen Auftretens »Knicks«. Er pflegte nämlich unverdrossen mit dem Zusammenschlagen der Hacken und dem Einknicken des Oberkörpers zu grüßen. Dieser Deutschnationale, ein vormaliges NSDAP-Mitglied, hatte zuvor als Studienrat für Griechisch und Latein amtiert. Er wurde dann mit dem Kriegsende aus dem Schuldienst entfernt. Erhielt, eine Referenz vor seiner klassischen Bildung, die Recknitzer Pfarrstelle zugeschanzt. Mit ihm pflegte Erna Johnson vertraulicheren Umgang. Ihr Sohn mißbilligte dies scharf. Wenn schon noch nicht an eine neue, so glaubte doch Uwe Johnson bereits im Frühsommer 1945 an das Ende der alten Zeit. Er stellte dem Pastor Kruse Fragen nach dem Anteil Gottes an der jüngst eingetretenen Katastrophe. Erna Johnson verwies ihm das streng. Andererseits bot das ungebrochen ehrgeizige soziale Streben der Mutter entschiedene Vorteile für den Sohn, sorgte zumindest dafür, daß Uwes Englisch auch unter den beschränkten Ausbildungsverhältnissen von Recknitz gefördert wurde. Dies muß ihr hoch anrechnen, wer um den nachgerade identitätsbildenden Wert des Englischen für den späteren Autor weiß. Den Sprachunterricht erteilte eine Studienrätin aus dem Ostpreußischen, Frau Luthe aus Tilsit. Eine fein gebildete und nun schon ältere Dame, die Uwe Johnson auch häufig außerhalb der Unterrichtsstunden aufsuchte. Bei Frau Charlotte Luthe – geboren am 7. Dezember 1899, gestorben am 14. Juni 1980 – lernte ein Knabe in Recknitz fürs Leben. So eindrücklich, daß er später mit dieser Dame einen Briefwechsel unterhalten wird, der über die Befindlichkeit des in Rostock frisch Verliebten mehr als jede andere Äußerung Johnsons aussagt. Frau Luthe muß eine begnadete Pädagogin gewesen sein.

      Im Dorf erinnert man den Knaben als einen viel lesenden Sonderling, der, in der Frühjahrssonne auf Sandhügeln sitzend, seiner Lektüre nachzugehen pflegte. Es galt ja auch, lesend vieles nachzuholen nach dem »Heimschulen«-Aufenthalt. Lesestoff wiederum fand sich ausreichend in Recknitz. Denn Onkel Milding hatte in seine Schmiede den Buchbestand der Schule übernommen, Mira Jaeger entsinnt sich auch an diesen Vorgang. Demzufolge geschah das, nachdem deren Lehrer Otto Bussicke – auch Johnsons Begleitumstände erinnern das grausige Geschehen – einen spektakulären Selbstmord verübt