– also aus Trotz, um ihre Ungebrochenheit den nun siegreichen sowjetischen Truppen gegenüber darzutun. »Nun erst recht.« Das würde selbstverständlich die Inhaftierung Erich Johnsons als »Politischer« statt als Volkssturmmann erklären. Und seine Frau hätte ihn zum Ort der Verhaftung begleitet, diese durch den Besuch in Anklam geradezu herbeigeführt? Die geschilderten Umstände ließen das Verschwinden des Vaters zu einem Geheimnis geraten, in dem »Verrat«, Versehen und Unglück gleichberechtigt – und eigentlich ununterscheidbar – nebeneinander zu stehen kamen.
»Aber«, so relativiert die zitierte Zeugenaussage ihren eigenen ersten Part, »es gab noch eine zweite Lesart. Daß das aus Wut die Hauswirtin gemacht hatte, mit der sie stets auf Kriegsfuß stand. Und das war allerdings auch eine sehr rabiate und zänkische Frau, mit der aneinanderzugeraten war nicht so übermässig schön.« Also hätten wir es mit »zwei on-dits, die einander aufheben«, zu tun. Kaum verwunderlich auch, daß »kein Mensch, jeder hat mit sich zu tun, [...] den Sachverhalt« überprüft hat. Auch in dieser Annahme hat Anneliese Klug, Uwe Johnsons Anklamer »Kindermädchen«, gewiß recht. Selbst Uwe Johnsons Schwester Elke hat sich zunächst geweigert, zur Biographie ihres Bruders beizutragen. Später, in Kenntnis der Druckfahnen dieses Buchs, hat sie die folgende Version niedergeschrieben:
Nach der Verhaftung verschwand unsere Mutter für lange Zeit, wochen-, vielleicht monatelang, so schien es mir. Wissen Sie, wo sie war? Sie reiste den Gefangenentransporten hinterher, um zu sehen, was aus ihrem Mann wird. Reisen in dieser Zeit war kein Absteigen in einem Hotel, mit ordentlichem Frühstück; reisen kann man das auch nicht gut nennen; Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Sie schlief in Parks und auf dem offenen Feld, zu essen hatte sie wenig, gelegentlich hat sich einer erbarmt, ihr was zu essen gegeben und manchmal ein Bett. Sie gab erst auf, als der Transport bei Frankfurt/Oder über die Grenze ging. Einmal hat sie mir einen schäbigen, schwarzen Mantel gezeigt, ihn gegen das Licht gehalten und gemeint: Ja, der hat viel aushalten müssen, diese Nächte auf dem Feld, auf der bloßen Erde. Hätten Sie so gehandelt?
Demnach wäre Erna Johnson gut vier Monate unterwegs gewesen. Die nachstehend zitierte Ramminsche Zeugenaussage legt nahe, daß die Gefangenen damals mit der Eisenbahn verlegt wurden. Auch entsannen alte Recknitzer sich wohl des kurzen Aufenthalts von Erich Johnson in ihrem Dorf, nicht aber einer längeren Abwesenheit seiner Frau Erna, die dann ihre Tochter ein Vierteljahr allein gelassen haben müßte. Elke Johnsons Version dem Leser zugänglich zu machen gebietet die Chronistenpflicht; eine Klärung indes bietet sie nicht. Eher ein Indiz dafür, daß im Hause Johnson in der Tat viel Trivialliteratur gelesen wurde.
Wie auch immer – die schwärzeste Auslegung aller zitierten Versionen ginge darauf, daß hier jemand die Gunst der Stunde genutzt und einen als inadäquat empfundenen Partner beiseite geschafft hätte. Unterstellt, die erstzitierte Version traf zu, muß Erna Johnson gewußt haben, was auf dem Tisch ihres Anklamer Hauses lag. Daß sie andererseits, sollte sie dies denn überhaupt gewünscht haben, über die notwendige kriminelle Energie und Kaltblütigkeit zu solcher Vorgehensweise verfügt hätte, scheint, nach allem, was wir über sie wissen, doch eher ausgeschlossen. Und dennoch liegt im geheimnisvollen Verschwinden ihres Mannes diese Möglichkeit beschlossen. Sie muß hier erwähnt werden, weil Uwe Johnsons Leben weithin im Zeichen der einen großen Angst verlaufen wird: daß nämlich der, dem man seine Seele ausliefert, einen verraten könnte an die politische Macht – mit potentiell tödlicher Konsequenz.
Naheliegend, daß solche Ahnung, wonach die Politik selbst die Liebe zu vergiften vermochte, seit dem Ende von Hitlers Krieg zu Uwe Johnsons emotionaler Grundausstattung gehörte. Im vierten Band der Jahrestage wird das traumatische Bohren in immer demselben Fragenkomplex manifest, ist die psychische Wirksamkeit der fatalsten aller geschilderten Versionen nachzuvollziehen:
Warum aber nahmen die Sowjets seinen Vater mit, weder Wehrmacht noch Partei, so daß er im Februar 1947 »zuletzt gesehen wurde, als er tot auf seinem Lager lag«? (Eine Zeugen-Aussage; die Mutter hoffte auf eine Rente. Die Rente wurde ihr, siehe gesellschaftliche Vergangenheit des Ehemannes, 1947 vorläufig, 1949 endgültig abgesprochen. Anspruch auf Erziehungsbeihilfe für den Schüler Lockenvitz: Bewilligt.) Im Fragebogen, in Gegenwartskunde sagte Lockenvitz: Mein Vater hatte einen Mietstreit mit dem Besitzer unseres Hauses; er wurde fälschlich denunziert. Als er uns vertrauen mochte, mit der Bitte um Stillschweigen: In unsere Villa kam dann die sowjetische Kommandantur. (Jahrestage, S. 1722)
Also die zweiterwähnte Version, das zweite »on-dit«. Freilich berichtet der Schüler Lockenvitz sie in offizieller Umgebung, in einem »Fragebogen« und in der »Gegenwartskunde«. Und er exkulpiert auch seinen Vater, indem er dessen Parteimitgliedschaft schlicht bestreitet.
Die Frage jedenfalls nach dem Verschwinden des Vaters und seinem tödlichen Verbleib steht im Zentrum von Johnsons später auch literarisch betriebenem Nachdenken – eigenartigerweise mit wachsendem zeitlichem Abstand immer ausschließlicher. Ein lebensgeschichtliches Vexierrätsel offenbar, dessen Anziehungskraft wuchs, anstatt abzunehmen. Das zweitausendseitige Jahrestage-Epos wird sich ganz entscheidend auch aus dieser Quelle speisen. Verrat im 20. Jahrhundert lautet der Titel des Buches, das Johnson die Bekanntschaft mit Margret Boveri suchen ließ. Mit dem Debüt-Roman Mutmassungen wird Heinrich Cresspahl die Bühne betreten – der gleiche Cresspahl, der später im selben ehemaligen KZ Neubrandenburg inhaftiert werden wird wie vor ihm, in der Realität des Jahres 1945, aller Wahrscheinlichkeit nach auch Erich Johnson. Gewiß: Uwe Johnson hat Cresspahls Schicksal sich erschrieben, als das einer gewünschten, erfundenen Vaterfigur und gemäß den Gesetzen des damals Wahrscheinlichen. Doch entscheidende Anstöße hatte bereits der Knabe durch Onkel Mildings realen »Fünfeichen«-Aufenthalt erhalten. Zwar hat Johnson keine Inhaftiertenliste des Internierungslagers Fünfeichen besessen. Daß sein Vater zunächst dahin verbracht worden war, hielt er indes für eine Tatsache.
Über das Lager selbst hatte er nicht nur aus dem Mund seines Onkels Erfahrungsberichte erster Hand vernehmen können. Er konnte darüber auch bei Hermann Just nachlesen:
Im KZ Neubrandenburg hatte sich in den Jahren 1945 bis 1947 genau der gleiche traurige Vorgang abgespielt wie im KZ Ketschendorf und anderwärts in den KZ’s: Hungernde Menschen, die dahinsiechten, in immer größerer Zahl an Dystrophie erkrankten und schließlich an Unterernährung eingingen. [...] Man mußte schon vor Schwäche umfallen oder nicht mehr zum Appell antreten können, um eine Überweisung in eine der Lazarettbaracken zu erhalten. [...] Die sowjetischen Ärzte erteilten den deutschen Ärzten genaue Anweisungen, welche Kranken und welche Krankheitsstadien in das Lazarett aufgenommen werden durften. [...] Jede einzelne Lazaretteinweisung bedurfte der persönlichen Genehmigung des sowjetischen Arztes. (Just, Die sowjetischen Konzentrationslager 1945–1950, S. 119)
Mithin müssen die Überlebenschancen für Erich Johnson bereits auf deutschem Boden minimal gewesen sein. Sie verbesserten sich nicht mit seiner Verschickung in die Sowjetunion. Johnsons Onkel Wilhelm Milding, den Schmied, holten die Sowjets laut der Erinnerungen alter Recknitzer mit einem Panjewagen ab. Diesem mußte der vormalige NS-Funktionär, angebunden, im Trab folgen. Es ging erst zum Verhör. Dann ab in die Gefangenschaft.
Bei Uwe Johnson wird aus der geschilderten historischen Realität die folgende Passage im dritten Band der Jahrestage:
Hier liegt Fünfeichen, das Sanatorium! Bräunlich und geradlinig liegt es mit seinen Baracken und seiner Hauptwache inmitten der weiten Ödfläche, die mit matschigen Lattenrosten, Stacheldrahtgängen und gedrungenen Wachtürmen ergiebig ausgestattet ist, über seinen Pappdächern ragen tannengrün, massig und weich zerklüftet die Berge am Lindental und dem Tollense-See himmelan, und weithin sichtbare Tafeln am Zaun unterrichten den Freund der Landschaft in russischer und deutscher und englischer Schrift: Verbotene Zone. Eintritt verboten. Es wird geschossen! Nach wie vor leitete die Rote Armee die Anstalt. Angetan mit ordensgeschmücktem Blouson, das weit über die bauschigen Breeches fällt, den Kopf unterm erdfarbenen Krätzchen erhoben, das Schnellfeuergewehr in Vorhalte, treibt der Armist den Häftling über die Lagerstraße voran, von Wissenschaft gehärtet und mit belustigter Verwunderung hält