Daß Uwe Johnson in diesem Brief seinen Geburtstag am 20. Juli mit dem gescheiterten Attentat auf den »Führer« zusammensieht und Göring nennt, wie dieser genannt zu werden wünschte, sollte er nicht die Luftherrschaft über England erringen – das schuldet sich natürlich dem politisch reflektierten, sarkastischen Bewußtsein des nunmehr 47jährigen Autors. Dennoch wird deutlich: Der Knabe Johnson war kein Hitlerjunge Quex. Vielmehr einer, den die Quexe drangsalierten, wofür es verschiedene Gründe gab. Zunächst: Johnson besaß zum Sport ein ausgesprochen delikates Verhältnis. Weiterhin: auf der Comenius-Grundschule hatte man den Konflikten noch durch Auswendiglernen entgehen können. Darüber berichtet auch die Gesine der Jahrestage ihrer Tochter Marie. Schon damals war Johnson ein langaufgeschossener Leptosomer, schlaksig und schielend. Als einer, der zudem leidenschaftlich las, und zwar seine »private« Lektüre, war er ein nachgerade prädestiniertes Objekt des Gehänselt-Werdens. Das um so mehr, als er sicherlich sein Handikap durch gute Schulleistungen auszugleichen trachtete. Die Photos des jungen Studenten zeigen eine deutliche Narbe unter dem linken Auge. Als Teil von Achims Jugenderfahrung hat Uwe Johnson im Dritten Buch jene Passage niedergeschrieben, in der wir ihn erneut in Kosten vor uns sehen:
In der Schule schloß er lange keine neuen Freundschaften, der Briefwechsel mit den zurückgelassenen wurde aber ratlos. [...] So übertrieb er den Eifer im Unterricht wie bei den Schularbeiten bis nahe an den Platz des Klassenersten; drei Mitschüler lauerten ihm auf an der nachmittäglich unbegangenen Straßenecke und schlugen ihn zusammen, ein scharfkantiger Stein hinterhergeworfen riß ihm die Schläfe weit auf, das ist diese Narbe am linken Auge. [...] Immerhin war ich doch ziemlich verletzt: sagte er, und: Bedenke mal daß wir die reinen Kinder waren. (Drittes Buch, S. 90 ff.)
Sie erschienen als die reinen Kinder, diese zehnjährigen »Jungmannen«. Und müssen einander dennoch im Stil der staatlicherseits gewünschten »Blonden Bestie« Nietzsches zugesetzt haben. Des Mecklenburgers Erfahrung war eine generationstypische. Das macht auch die literarische Qualität der entsprechenden Passagen etwa im Dritten Buch aus. In Fritz Rudolf Fries’ Weg nach Oobliadooh, in einem Roman also, den sein Autor selbst als Antwort auf die Mutmassungen verstand und den kein anderer als Uwe Johnson half, dem Suhrkamp Verlag zur Publikation zu vermitteln, erscheinen ganz ähnliche Erfahrungen aufbewahrt:
Paasch vortreten, sagt der Lagerälteste. [...] Die Fahne steigt in den Himmel, reißt ein schwarz-rot-weißes Loch ins Weiß der Morgenstunde. [...] Paasch ist an der Reihe. Er tritt aus dem Karree der Geborgenheit. Jemand verbindet ihm die Augen, führt ihn an den Rand der Grube, über die zu springen es gilt, ohne ihre Ausmaße zu kennen. Der Älteste pfeift. Paasch springt, fällt ins Bodenlose. Die Meute johlt. Der Lagerälteste pfeift ab. Paasch kann zurücktreten, taumelnd. (Fries, Obliadooh, S. 44)
Der Sport als Kampf und Krieg dominierte den Alltag dieser Anstalten. Daneben stand der Unterricht mit einem Stundenplan wie dem folgenden, der auf der NaPoLa im ostpreußischen Stuhm galt:
Deutsch | 4 Wochenstunden |
Geschichte | 3 |
Erdkunde | 2 |
Latein | 4 |
Englisch | 5 |
Mathematik | 3 |
Physik | 2 |
Chemie | 2 |
Biologie | 2 |
Kunsterziehung | 2 |
Musik | 1 |
Sport | 5 (Überhorst, Elite, S. 180) |
Selbstverständlich kann der Knabe Uwe Johnson von solcher Ausbildung nicht gänzlich unbeeinflußt geblieben sein, zumal sie sich an durchaus avancierten pädagogischen Modellen ausrichtete. Wie immer auch ideologisch der Blick nach rückwärts gewandt war, bezog die Pädagogik von Hitlers Sonderschulen die damals ganz modernen Medien Film und Rundfunk mit ein – und zwar in einem ganz erstaunlichen Ausmaß. Diese Eliteschulen erschienen als ein getreues Spiegelbild des »Dritten Reichs«, waren ideologisch einem vorindustriellen Denken, technisch und pädagogisch aber dem Modernsten, das damals überhaupt erreichbar erschien, verpflichtet. Insonderheit der »bildnerischen und handwerklichen Erziehung« räumten diese Anstalten einen breiten Raum ein. Dabei ging es ihnen immer um die Wahrnehmung von Geschichte im Gegenwärtigen, um das Erkennen des Symbolischen im Alltäglichen. Sehr früh bereits wird Uwe Johnson einen frappierend genauen, einen förmlich archäologisch sezierenden Blick für symbolische Komponenten in allen Erscheinungen entwickeln. Johnsons Darstellung der mecklenburgischen Landschaft in ihrem mythisch-geologischen Aufbau in den Mutmassungen legen Zeugnis davon ab. Gleiches tut die Heimatinnigkeit der Babendererde. Man mag sich gegen diese Erkenntnis sperren: Der Schriftsteller Johnson wird von der Kunsterziehung in der Kostener »Heimschule« nicht unbeeinflußt geblieben sein. Die Pädagogen des »Dritten Reichs« wußten nur zu genau, wie eine ästhetische Macht der Kunst sich politisch instrumentalisieren läßt:
Uns leitet dabei die Erkenntnis, daß Symbol und Bildwerk über die Herzen und Handlungen der Menschen wieder die Macht einer großen schöpferischen, von einer festen sittlichen Wertordnung getragenen Zeit gewonnen haben. Wenn aber 400 Jungen 8 Jahre hindurch täglich vor einem Glasfenster, dem von Langemarck oder dem des 9. November oder unter den 18 schmiedeeisernen Leuchtenböden des großen Saales sitzen, auf denen der Sinn dieses Geschehens in gestalteten Symbolen, Namen der Toten und Zahlen bis zum Sieg der Bewegung im Sudetenland eindeutig geformt ist, dann bildet das bei allen Jungen eine einzige Vorstellung. (Überhorst, Elite, S. 197)
Wer will das bestreiten? Und was im Kopf dieser Jungen dann eine »einzige Vorstellung« gebildet haben muß, ist zumindest in Umrissen rekonstruierbar. Der Wille, Symbole zu schaffen und dadurch die jugendlichen Gemüter zu erschüttern, kennzeichnete die Feierstunden und Gemeinschaftsgesänge. Der Tagesablauf der Sonderschulen trat als geschlossene Ereignisfolge auf, die ihren Zielpunkt eben in den Feierstunden hatte. Jeder Tag begann mit dem Wecken um 6.45 Uhr durch eine wütend schrillende elektrische Klingel. Darauf folgten Frühsport und das Duschen, das die verschiedenen Stuben in gehetzter Zeitabfolge durch erst brodelnde Hitze, dann strenge Kälte jagte. Um acht Uhr erhielten die Jungen die erste Portion Symbolik bei der Flaggenhissung verabreicht. Danach: Frühstück. Weitere wichtige Teile des Tages galten dem gemeinsamen Singen, Uwe Johnsons großem Sehnsuchts-Traum in späteren Güstrower Tagen. Es war überwiegend in die abendliche Dunkelheit verlegt, erhellt nur vom mystischen Lodern der Flammen (die »Waberlohe«). Da wird auch Uwe Johnson das Horst-Wessel-Lied gesungen haben, bezwungen vom Wunsch, dieser Gemeinschaft anzugehören. Allabendlich in der Gemeinschaftsstube der »Deutschen Heimschule« in Kosten erhob sich der Gesang der Knaben:
In den Ostwind hebt die Fahnen,
denn im Ostwind stehn sie gut!
Dann befehlen sie zum Aufbruch,
und den Ruf hört unser Blut.
Denn ein Land gibt uns die Antwort,
und das trägt ein deutsch’ Gesicht:
Dafür haben viel geblutet,
und drum schweigt der Boden nicht!
In den Ostwind hebt die Fahnen,
denn der Ostwind macht sie weit.
Drüben geht es an ein Bauen,
das ist größer als die Zeit!
Auch in diesen Zusammenhängen müssen