[...] dass Katharina schiele. Schiele! [...] Aber ich sehe das Kind an, das mit seiner eleganten braunen Brille aussieht genau wie die 12jährige in meiner Schule, die kein Mensch mochte, und kann mich nicht trösten.
Nicht bocksartig schielend, sondern symmetrisch dreinschauend wünschte die Mutter sich ihren Sohn. Ein Hof-Erbe sollte der Knabe zunächst werden, dann ein Chirurg. Im Jahr 1947 hat die verwitwete Erna Johnson einem Mann, der sie heiraten wollte – und den sie davon abzuschrecken wünschte –, erzählt, ihr Sohn solle Medizin studieren. Die sozialen Phantasien, die sich in diesen Berufswünschen aussprachen, sind von ehrgeiziger Dynamik. Darüber hinaus sollte Uwe Johnson Geigenunterricht erhalten, ein Vorhaben, das in die Tat umgesetzt wurde. Die Aufstiegsorientiertheit des Elternhauses spricht schließlich aus jenen Passagen der Begleitumstände, wo diese die proletarische Lösung einer »Schmiedelehre« in Recknitz beschreiben:
Leider wird diese Lehrzeit abgebrochen durch einen Wunsch des Vaters, der durch seinen Tod in ein Vermächtnis verwandelt ist: »Der Junge soll es einmal besser haben.« Darunter hat man zu jener Zeit unberatenerweise verstanden: den Übergang auf eine weiterbildende Schule, das Abitur und, womöglich, ein Studium. Hätte es damals eine Wahl gegeben, ich riete mir von heute her zur Schmiedelehre. (Begleitumstände, S. 33)
Das freilich wurde 1979 rückblickend von einem geschrieben, der im Begriff war, sich nach jahrelanger Depression und Schreibhemmung das Schreiben mühsam wieder beizubringen. Der Wunsch nach der Schmiedelehre liest sich vor diesem Hintergrund so sarkastisch wie illusorisch und provokativ.
Die soziale Karriere der Familie setzte sich fort und gipfelte endlich im Bezug eines Hauses mit Garten, jenem Archetyp des alldeutschen Lebenstraums. Immerhin zogen die Johnsons, soziale Aufsteiger sind in aller Regel mobil, in ihren elf Anklamer Jahren, zwischen 1934 und 1945, dreimal um. Der letzte Umzug ging im Jahr 1938 nach »Mine Hüsung 12«, knapp zwanzig Minuten Fußweg von der alten Adresse entfernt und damals noch vor der eigentlichen Stadt. Ein neuerschlossenes Wohngebiet, auf dem einladende Walmdachhäuschen errichtet wurden. »Am Markt 23« hatten die Johnsons nur den abgeteilten Part einer Fünf-Zimmer-Wohnung ihr eigen nennen können. Jetzt zog die Familie in ein geräumigeres Domizil, das durch Wohnkredite des neuen nationalen – sich ja auch sozialistisch nennenden – Regimes ermöglicht worden war. Das »Häuschen mit Garten« besaß einen – kleineren – Ziergarten vorn und einen – größeren – Nutzgarten hinten. Die Siedlung ging von der Pasewalker Landstraße ab und verlief U-förmig. Johnsons wohnten, von der erwähnten Pasewalker Landstraße her betrachtet, im rechten Flügel des Areals mit einem guten Stück freier Aussicht an der rückwärtigen Front. Eine weitere Stadtrandsiedlung entstand in ungefähr 200 Metern Entfernung, bestimmt für kinderreiche und sozialschwache Familien. Von denen war man aber durch eine Wiese getrennt, durch sumpfigen Grund, den ein Kind im Sommer barfuß als Spielplatz nutzen konnte.
Uwe Johnson selbst hat eine ebenso mimetisch genau erinnerte wie frei konzipierte Skizze dieses frühen Wohnorts gegeben. Auch in ihr wird der Ensemble-Charakter der neuen Siedlung betont, der ursprünglich sehr viel strenger als heute ins Auge getreten sein wird. Daneben stellt der Erinnernde heraus, was dieser Umzug für das soziale Selbstgefühl der Familie und deren emotionalen Zusammenhalt bewirkte. Es entsteht das Bild von Menschen, die in der Gleichförmigkeit ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, die auch neue Zuneigung füreinander finden, verbunden durch den Stolz auf das endlich Erreichte. Diese nur a posteriori widersprüchliche Signatur prägt Johnsons literarische Skizze des Anklamer Milieus im Dritten Buch über Achim, wo der Autor seiner Figur Achim eine Jugendbiographie erfindet, in der Züge des Alltagslebens der Johnsons um 1939/40 zu erkennen sind:
Das Amt gab ihm südöstlich vor der Stadt ein Einfamilienhaus zur Miete. Das waren damals etwa zehn gleichförmige Häuser um einen ungepflasterten Dorfplatz, in dessen Mitte ein Findling aufgerichtet war zum Gedenken an die Toten des ersten deutschen Weltkrieges aber noch nicht für die des zweiten. Die Häuser hatten alle den nämlichen verglasten Treppenaufgang zur Seite, graubraune Satteldächer, die gleichen Fensterordnungen und Schuppen in den großen Hintergärten. [...] Dem Vater wich der graue Schimmer aus dem Gesicht, er war nicht mehr rauhbärtig wie früher die meiste Zeit der Woche, er trug weiße zugeknöpfte Hemden mit Krawatten, er kam gebadet nach Hause wie festtäglich. [...] Vor den feiertäglichen Besuchen der neuen Kollegen saß die Mutter fahrig überrötet am neuen Frisiertisch und tat sich Puder und Crème und Farbe ins Gesicht; Achim pflegte daneben lehnend ihr zuzusehen, bis sie seinen Blick im Spiegel festhielt und fragte ob es genug sei, und er verlegen nickte. Sie war viel zärtlicher zu ihm, inzwischen glaubte er sich wieder groß genug dafür. (Drittes Buch, S. 89)
Ein Zufall ist es wohl nicht, daß in Uwe Johnsons Literatur Szenen erfüllten Familienlebens, wie sie dem neu bezogenen Haus zugehörten, in tableauartig breiter Schilderung zu neuem Leben erwachen:
Der Vater hat nicht viel gesagt. Sein Gesicht war unlesbar verschwiegen, er verständigte sich mit einzelnen wie hervorgepreßten Worten, nur der Mund war bewegt; [...] Die Mutter ging den an mit Beredsamkeit. [...] Im Umgang mit den Nachbarn war sie lockerer, die Worte gingen ihr unbedacht vom Mund, sie lachte gern: wie überrascht. Mit herzlichen Reden und betulich hielt sie den staatlichen Frauenverband in der Siedlung zusammen, stellte jede Tüte gesammelter Lebensmittel befriedigt nachzählend auf die ausgezogene Servierlade der Kredenz im Wohnzimmer, tat die grösste am Ende selbst hinzu: dabei kam es ihr an auf den Zusammenhalt des deutschen Volkes gegen seine Feinde. [...] Bei den stundenlangen Reden des erregten Hitler [...] sass sie ergeben bisweilen mit Kopfschütteln am Strümpfestopfen, während der Vater krumm den Kopf auf die Tischecke stützte, die man nicht einsehen konnte. [...] Die Mutter bekam nichts Sichtbares zu Weihnachten, aber zum Geburtstag Romane, die sie während des übrigen Jahres nicht zeigen durfte, denn der Vater hielt nichts vom unterhaltenden Lesen. (Drittes Buch, S. 75 ff.)
So weit scheint, bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber der Klippe des Biographismus, die Folgerung gestattet: Wir sehen vor uns die Familie Johnson in »Mine Hüsung« Nr. 12. Damit enden aber die Parallelen. Denn Achims Vater ist Arbeiter und Antifaschist, bei dem sogar Widerstandshandlungen nicht auszuschließen sind – in diese Wunschvater-Zone hat der Autor seine Figur als Hommage an seinen Leipziger Professor Hans Mayer weitergeführt. Johnson selbst hat dem Gelehrten dies mitgeteilt.
Der Knabe nannte die neue Heimat »Oma Röhls Stadt«, denn in der Nähe, noch auf dem Lande vermutlich, wohnte die Großmutter von Anneliese Röhl. In der kindlichen Bezeichnung mag auch so etwas wie kindliche Melancholie mitschwingen, Sehnsucht des Knaben nach seiner eigenen fernen, geliebten Oma auf Wollin, der Insel im Oderhaff, wo man mit dem Kahn durch knisterndes Schilf gleiten konnte.
Die Siedlung, wie immer vor 1933 erbaut, als programmatische Sozialleistung des »Dritten Reiches«, ihr Name als Antwort auf Fritz Reuters Versepos Kein Hüsung: Nie mehr im neuen Deutschland sollten Liebende nicht zusammenkommen können, bloß weil ihnen der Wohnraum fehlte. Im Hause des Erich Johnson kündigte sich denn auch noch im Jahr 1939 Nachwuchs an. Die Familie vergrößerte sich 1940 um die Tochter Elke Christine. »Elke Christine«. »Uwe Klaus Dietrich« – klatschten in der Siedlung und im Städtchen die Leute über die aktive Frauenschaftlerin Erna Johnson: Die Frau lese zuviel triviale Literatur und wolle zu hoch hinaus?
Deutschlands Wiederaufbau, wie die Zeit ihn sah, war nicht nur abgeschlossen, das Reich begann vielmehr, sich neuen »Lebensraum« zu erobern. Es stand sehr gut um Hitlers Krieg im Jahre 1940. Immer mehr Volksgenossen würden DKW – und Volkswagen – fahren. Man war, aus Schweden stammend,