Sherlock Holmes' Buch der Fälle. Arthur Conan Doyle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Conan Doyle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955012410
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      Mit einem Fluch stürzte Miss Winter vorwärts, und wenn ich sie nicht am Handgelenk festgehalten hätte, dann hätte sie diese Frau vor Wut an den Haaren gepackt. Ich zerrte sie zur Tür und hatte Glück, sie ohne öffentliches Aufsehen zurück in die Droschke zu bekommen, denn sie war außer sich. Auf eine kalte Art und Weise war ich selbst ganz schön wütend, Watson, denn es lag etwas unbeschreiblich Aufreizendes in der leidenschaftslosen Reserviertheit und erhabenen Selbstgefälligkeit der Frau, die wir zu retten versuchten. Nun kennen Sie also wieder den genauen Stand der Dinge, und ich muß offensichtlich einen neuen Eröffnungszug planen, denn mit diesem Gambit klappt es wohl nicht. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung, Watson; es ist nämlich mehr als wahrscheinlich, daß auch Sie Ihren Part noch spielen müssen, obwohl es auch sein kann, daß zunächst sie und nicht wir am Zug sind.«

      Und so war es. Ihr Streich fiel – oder vielmehr sein Streich; denn niemals könnte ich glauben, daß die Lady darin eingeweiht war. Ich glaube, ich könnte noch genau den Pflasterstein bezeichnen, auf dem ich stand, als mein Blick auf das Plakat fiel und ein Stich des Grauens mir mitten durchs Herz fuhr. Es geschah zwischen dem Grand Hotel und der Charing Cross Station, wo ein einbeiniger Zeitungsverkäufer seine Abendausgabe feilbot. Es war genau zwei Tage nach unserer letzten Unterhaltung. Dort stand es, schwarz auf gelb, auf dem schrecklichen Aushängebogen:

Bild

      Ich glaube, ich blieb einige Augenblicke lang wie betäubt stehen. Dann erinnere ich mich undeutlich, daß ich mir eine Zeitung schnappte, daß der Mann mich ermahnte, weil ich nicht bezahlt hatte, und daß ich schließlich im Eingang einer Apotheke stand, während ich den verhängnisvollen Artikel aufschlug. Er lautete wie folgt:

      Wir erfahren mit Bedauern, daß Mr. Sherlock Holmes, der bekannte Privatdetektiv, heute vormittag das Opfer eines Mordüberfalls wurde, der ihn in einen besorgniserregenden Gesundheitszustand versetzte. Genaue Einzelheiten liegen nicht vor, der Vorfall scheint sich jedoch gegen zwölf Uhr in der Regent Street, vor dem Café Royal, ereignet zu haben. Der Anschlag wurde von zwei mit Stöcken bewaffneten Männern verübt, und Mr. Holmes erhielt Schläge auf Kopf und Körper, wobei er Verletzungen davontrug, welche die Ärzte als äußerst ernst bezeichnen. Man überführte ihn ins Charing Cross Hospital; später bestand er darauf, zu seiner Wohnung in der Baker Street gebracht zu werden. Bei den Schurken, die ihn überfallen haben, handelt es sich offenbar um respektierlich gekleidete Männer, die den Umstehenden entkamen, indem sie durchs Café Royal hinaus auf die dahinter liegende Glasshouse Street liefen. Ohne Zweifel gehören sie zu jener verbrecherischen Vereinigung, die schon so oft Gelegenheit hatte, Tatkraft und Scharfsinn des Verletzten zu beklagen.

      Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich den Artikel kaum überflogen hatte, als ich schon in eine Droschke sprang und mich auf dem Weg zur Baker Street befand. Im Hausflur traf ich Sir Leslie Oakshott an, den berühmten Wundarzt, dessen Kutsche am Bordstein wartete.

      »Keine unmittelbare Gefahr«, lautete sein Rapport. »Zwei Platzwunden am Kopf und ein paar beachtliche Quetschungen. Mehrere Stiche waren erforderlich. Morphium wurde injiziert, und Hauptsache ist Ruhe; aber eine Unterredung von ein paar Minuten wäre durchaus nicht verboten.«

      Mit dieser Erlaubnis stahl ich mich in das abgedunkelte Zimmer. Der Leidende war hellwach, und ich hörte meinen heiser geflüsterten Namen. Das Rouleau war zu drei Vierteln herabgelassen, aber ein Sonnenstrahl glitt schräg hindurch und traf den bandagierten Kopf des Verletzten. Ein karmesinroter Fleck hatte sich durch die weiße Leinenkompresse gesaugt. Ich setzte mich neben Holmes und senkte den Kopf.

      »Schon gut, Watson. Machen Sie nicht so ein erschrockenes Gesicht«, murmelte er mit sehr schwacher Stimme. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

      »Gott sei Dank!«

      »Ich bin ja ein ziemlicher Experte im Stockfechten, wie Sie wissen. Die meisten Hiebe habe ich abgewehrt. Der zweite Gegner, der war freilich zuviel für mich.«

      »Was kann ich denn tun, Holmes? Es war natürlich dieser verdammte Bursche, der sie angesetzt hat. Ein Wort von Ihnen, und ich geh los und zieh ihm das Fell über die Ohren.«

      »Guter alter Watson! Nein, wir können nichts tun; es sei denn, die Polizei ergreift die Männer. Aber ihre Flucht war gut vorbereitet. Dessen können wir sicher sein. Warten Sie noch ein bißchen ab. Ich habe so meine Pläne. Zunächst heißt es, meine Verletzungen aufs grellste darzustellen. Man wird Sie um Neuigkeiten angehen. Tragen Sie dick auf, Watson. Ich hätte Glück, wenn ich die Woche noch überlebte – Gehirnerschütterung – Delirium – was Sie wollen! Sie können gar nicht genug übertreiben.«

      »Aber Sir Leslie Oakshott?«

      »Oh, das geht schon in Ordnung. Er wird mich im schlechtesten Zustand erleben. Dafür sorge ich schon.«

      »Sonst noch etwas?«

      »Ja. Richten Sie Shinwell Johnson aus, er soll dieses Mädchen aus der Schußlinie bringen. Diese Prachtburschen werden nun hinter ihr her sein. Sie wissen natürlich, daß sie wegen der Sache bei mir war. Wenn sie es sich bei mir getraut haben, werden sie sie wohl kaum ungeschoren lassen. Das ist dringend. Erledigen Sie es noch heute abend.«

      »Ich bin schon auf dem Sprung. Noch etwas?«

      »Legen Sie meine Pfeife auf den Tisch – und den Tabakspantoffel. Gut! Schauen Sie jeden Morgen herein, dann werden wir unseren Feldzug planen.«

      Am gleichen Abend verabredete ich mit Johnson, Miss Winter in eine ruhige Vorstadt zu bringen und dafür zu sorgen, daß sie sich versteckt hielt, bis die Gefahr vorüber war.

      Sechs Tage lang lebte die Öffentlichkeit unter dem Eindruck, daß Holmes sich an der Schwelle des Todes befinde. Die Bulletins waren sehr ernst, und in den Zeitungen erschienen düstere Artikel. Meine fortgesetzten Visiten überzeugten mich, daß es so schlimm nicht stand. Seine drahtige Konstitution und sein entschlossener Wille wirkten Wunder. Er erholte sich schnell, und ich hatte zuzeiten den Verdacht, daß er tatsächlich schneller auf die Beine kam, als er, selbst mir gegenüber, vorgab. Er hatte eine seltsame heimlichtuerische Ader, die schon manchen dramatischen Effekt gezeitigt hatte, aber selbst seine engsten Freunde darüber im dunkeln ließ, welches seine genauen Pläne waren. Bis zum Äußersten verfolgte er den Grundsatz, daß der einzig sichere Plan der sei, den einer alleine aushecke. Ich stand ihm näher als irgend jemand sonst; dennoch war ich mir der Kluft zwischen uns immer bewußt.

      Am siebten Tag wurden ihm die Fäden gezogen; trotzdem erschien in den Abendblättern ein Bericht über eine Wundrose. In denselben Abendblättern stand eine Ankündigung, die ich meinem Freund, sei er nun krank oder wohlauf, zu bringen verpflichtet war. Es handelte sich schlicht darum, daß sich unter den Passagieren eines Schiffes der Cunard-Linie, der Ruritania, die am Freitag von Liverpool aus in See stechen sollte, der Baron Adelbert Gruner befand, der in den Staaten einige wichtige Finanzgeschäfte abzuwickeln habe, und zwar noch vor seiner nahe bevorstehenden Heirat mit Miss Violet de Merville, der einzigen Tochter von usw. usw. Holmes lauschte den Neuigkeiten mit einem kalten, konzentrierten Ausdruck auf seinem blassen Gesicht, was mir verriet, daß sie ihn hart trafen.

      »Freitag!« rief er. »Nur noch drei volle Tage. Ich glaube, der Halunke will sich aus der Gefahrenzone absetzen. Aber das wird ihm nicht gelingen, Watson! Beim Leibhaftigen, das wird ihm nicht gelingen! Doch nun, Watson, möchte ich, daß Sie etwas für mich tun.«

      »Dazu bin ich ja hier, Holmes.«

      »Gut, dann verwenden Sie die nächsten vierundzwanzig Stunden auf ein intensives Studium chinesischer Keramik.«

      Er gab keine Erklärungen ab, und ich fragte auch nicht danach. Durch lange Erfahrung hatte ich die Weisheit des Gehorsams gelernt. Als ich jedoch seine Wohnung verlassen hatte, ging ich die Baker Street entlang und sann darüber nach, wie um alles in der Welt ich eine so sonderbare Anordnung ausführen sollte. Schließlich fuhr ich zur London Library am St. James Square, trug die Sache meinem Freund Lomax, dem Unterbibliothekar, vor und begab mich mit einem stattlichen Band unter dem Arm zu meiner Wohnung.

      Man sagt, daß der Rechtsanwalt, der einen Fall so sorgfältig