Sir James Damery empfiehlt sich Mr. Sherlock Holmes und beabsichtigt, ihn morgen um 16.30 Uhr aufzusuchen. Sir James erlaubt sich zu erwähnen, daß die Angelegenheit, in der er Mr. Holmes zu konsultieren wünscht, höchst delikat und überdies äußerst wichtig ist. Er hofft daher zuversichtlich, daß Mr. Holmes sein Bestes tun wird, diese Unterredung zu gewähren, und daß er dies durch einen telephonischen Anruf im Carlton Club bestätigt.
»Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich es bestätigt habe, Watson«, sagte Holmes, als ich ihm das Papier zurückgab. »Wissen Sie irgend etwas über diesen Damery?«
»Nur, daß sein Name in der Gesellschaft geläufig ist.«
»Na, da kann ich Ihnen noch etwas mehr verraten. Er genießt einen ziemlichen Ruf als Vermittler bei delikaten Angelegenheiten, die nicht in die Zeitung kommen sollen. Sie erinnern sich vielleicht an seine Verhandlungen mit Sir George Lewis über den Hammerford-Will-Fall. Er ist ein Mann von Welt mit einer natürlichen Veranlagung zur Diplomatie. Ich bin daher gewiß, daß dies keine falsche Fährte ist und daß er unseren Beistand auch wirklich benötigt.«
»Unseren?«
»Nun, wenn Sie die Güte hätten, Watson.«
»Es soll mir eine Ehre sein.«
»Na denn, die Stunde ist Ihnen bekannt – sechzehn Uhr dreißig. Bis dahin können wir die Angelegenheit vergessen.«
Ich hatte damals meine eigene Wohnung in der Queen Anne Street, fand mich jedoch schon vor der angegebenen Zeit in der Baker Street ein. Punkt halb fünf wurde Colonel Sir James Damery gemeldet. Ihn zu beschreiben, ist wohl kaum erforderlich, denn viele werden sich dieser stattlichen, freimütigen und rechtschaffenen Persönlichkeit erinnern, jenes breiten, glattrasierten Gesichtes und vor allem jener angenehmen, sanften Stimme. Offenheit strahlte aus den grauen irischen Augen, und gute Laune umspielte die lebhaften, lächelnden Lippen. Sein glänzender Zylinder, der dunkle Gehrock –: von der Perlennadel in der schwarzen Seidenkrawatte bis zu den lavendelfarbenen Gamaschen über den Lackschuhen besprach in der Tat jedes Detail die penible Sorgfalt seiner Kleidung, für die er berühmt war. Der große, gebieterische Aristokrat beherrschte das kleine Zimmer.
»Selbstverständlich war ich darauf vorbereitet, auch Dr. Watson anzutreffen«, bemerkte er mit einer höflichen Verbeugung. »Seine Mitarbeit ist vielleicht sogar höchst erforderlich; bei diesem Fall, Mr. Holmes, haben wir es nämlich mit einem Mann zu tun, für den Gewalt etwas Alltägliches bedeutet und der buchstäblich vor nichts zurückschreckt. Ich möchte behaupten, es gibt keinen gefährlicheren Mann in Europa.«
»Ich hatte bereits mehrere Gegner, auf die man diese schmeichelhafte Bezeichnung anwandte«, sagte Holmes lächelnd. »Sie rauchen nicht? Dann entschuldigen Sie bitte, wenn ich mir meine Pfeife anzünde. Wenn Ihr Mann gefährlicher ist als der verstorbene Professor Moriarty oder der noch lebende Colonel Sebastian Moran6, dann lohnt es sich in der Tat, ihn kennenzulernen. Darf ich fragen, wie er heißt?« »Haben Sie schon einmal von Baron Grüner gehört?« »Sie meinen den österreichischen Mörder?« Colonel Damery hob lachend die in Glacéhandschuhen steckenden Hände. »Ihnen entgeht wohl gar nichts, Mr. Holmes! Wundervoll! Sie halten ihn also bereits für einen Mörder?«
»Es gehört zu meinem Beruf, die Verbrechen auf dem Kontinent eingehend zu verfolgen. Wie könnte jemand, der irgend etwas über die Geschehnisse in Prag gelesen hat, noch an der Schuld dieses Mannes zweifeln! Es war doch lediglich ein juristischer Kunstkniff und der verdächtige Tod eines Zeugen, was ihn rettete! Ich bin so sicher, daß er seine Frau getötet hat, als sich der sogenannte ›Unfall‹ am Splügenpaß7 ereignete, als ob ich ihm dabei zugeschaut hätte. Ich wußte auch, daß er nach England gekommen war, und mir schwante bereits, daß er mir früher oder später zu schaffen machen würde. Nun, was hat Baron Grüner denn angestellt? Ich nehme doch an, man hat nicht diese alte Tragödie wieder aufgegriffen?«
»Nein, es handelt sich um etwas Ernsteres. Ein Verbrechen zu ahnden, ist wichtig; aber es zu verhindern, ist noch wichtiger. Es ist schrecklich, Mr. Holmes, wenn man erkennt, wie sich ein entsetzliches Ereignis, eine gräßliche Situation vor den eigenen Augen anbahnt; wenn man klar begreift, wohin das fuhren muß, und dennoch gänzlich außerstande ist, es abzuwenden. Kann ein Mensch in eine mißlichere Lage geraten?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Dann werden Sie dem Klienten, dessen Interessen ich vertrete, Ihr Mitgefühl nicht versagen.«
»Ich wußte nicht, daß Sie nur Vermittler sind. Wer ist denn Ihr Auftraggeber?«
»Mr. Holmes, ich muß Sie bitten, nicht auf dieser Frage zu bestehen. Es ist wichtig, daß ich ihm zusichern kann, daß sein angesehener Name auf keinen Fall in die Sache mit hineingezogen wird. Seine Beweggründe sind in höchstem Maße ehrenhaft und ritterlich, aber er zieht es vor, unerkannt zu bleiben. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß Ihr Honorar gesichert ist und daß man Ihnen vollkommen freie Hand läßt. Der wirkliche Name Ihres Klienten ist doch gewiß ohne Belang?«
»Bedaure«, sagte Holmes. »Ich bin es zwar gewohnt, daß bei meinen Fällen am einen Ende ein Rätsel steht; aber an beiden Enden – das ist zu verwirrend. Ich fürchte, Sir James, ich muß ablehnen.«
Unser Besucher war sehr verstört. Sein breites, empfindsames Gesicht verdüsterte sich vor Erregung und Enttäuschung.
»Sie sind sich der Konsequenz Ihrer Handlungsweise wohl kaum bewußt, Mr. Holmes«, sagte er. »Sie bringen mich in ein äußerst ernstes Dilemma – ich bin mir nämlich sicher, daß Sie den Fall mit Stolz übernähmen, wenn ich Ihnen die Fakten mitteilen könnte; aber ein Versprechen verbietet mir, sie gänzlich zu enthüllen. Darf ich Ihnen wenigstens das darlegen, was mir anzugeben möglich ist?«
»Durchaus, solange wir darüber einig sind, daß ich mich dadurch zu nichts verpflichte.«
»Das versteht sich von selbst. Zunächst einmal: Sie haben doch zweifellos schon von General de Merville gehört?«
»Der berühmte de Merville vom Khyberpaß8? Ja, ich habe von ihm gehört.«
»Er hat eine Tochter, Violet de Merville, jung, reich, schön, gebildet – ein Wunderweib in jeder Beziehung. Und just diese Tochter, dieses liebliche, unschuldige Mädchen aus den Klauen eines Satans zu retten, sind wir zur Zeit bemüht.«
»Dann hat also Baron Grüner eine gewisse Macht über sie?«
»Die stärkste aller Mächte, die für eine Frau von Belang sind – die Macht der Liebe. Der Bursche sieht, wie Sie vielleicht schon gehört haben, außerordentlich gut aus, hat bezaubernde Manieren, eine sanfte Stimme und jenes Air von Romantik und Geheimnis, das einer Frau so viel bedeutet. Es heißt, daß ihm das ganze weibliche Geschlecht zu Füßen liege und daß er sich diesen Umstand auch weidlich zunutze mache.«
»Aber wie kommt ein solcher Mann dazu, eine Lady vom Stand der Miss Violet de Merville kennenzulernen?«
»Es geschah auf einer Yachtreise im Mittelmeer. Obwohl es sich um eine geschlossene Gesellschaft handelte, bezahlte jeder die Passage selbst. Ohne Zweifel waren sich die Veranstalter über den wahren Charakter des Barons erst im klaren, als es zu spät war. Der Schurke nahm die Lady für sich ein, und das mit solchem Erfolg, daß er voll und ganz ihr Herz gewonnen hat. Die Feststellung, daß sie ihn liebt, drückt den Sachverhalt nur unzureichend aus. Sie ist vernarrt in ihn, sie ist von ihm besessen. Außer ihm gibt es nichts auf der Welt. Sie will kein Wort gegen ihn hören. Alles wurde bereits unternommen, um sie von ihrer Verrücktheit zu kurieren, aber vergeblich. Kurz, sie beabsichtigt, ihn nächsten Monat zu heiraten. Da sie volljährig ist und einen eisernen Willen hat, ist guter Rat teuer, wie man sie daran hindern könnte.«
»Weiß sie von der österreichischen Episode?«
»Der schlaue Teufel hat ihr von jedem schmutzigen öffentlichen Skandal seiner Vergangenheit erzählt; aber immer so, daß er sich dabei als unschuldigen Märtyrer darstellt. Sie nimmt ihm seine Version uneingeschränkt ab und will von keiner anderen hören.«