»Ich könnte Sie ja täuschen, indem ich es behauptete, Mr. Holmes; aber es wäre nicht die Wahrheit. De Merville ist ein gebrochener Mann. Der unbeugsame Soldat wurde von diesem Vorfall vollständig demoralisiert. Er hat den Mut, der ihn auf dem Schlachtfeld nie im Stich ließ, verloren und ist zu einem schwachen, zitternden Greis geworden, der völlig unfähig ist, es mit einem brillanten, kräftigen Halunken wie diesem Österreicher aufzunehmen. Mein Klient ist jedenfalls ein alter Freund – einer, der den General seit vielen Jahren genau kennt und an diesem jungen Mädchen, schon seit sie noch Kinderkleidchen trug, väterliches Interesse nimmt. Er kann nicht tatenlos mit ansehen, wie sich diese Tragödie vollzieht. Für Scotland Yard gibt es hierbei keinerlei Handhabe. Es war sein Vorschlag, Sie zu konsultieren; aber dies geschah, wie ich schon erwähnt habe, unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er persönlich nicht in die Sache hineingezogen würde. Ich zweifle nicht daran, Mr. Holmes, daß Sie mit Ihren hervorragenden Fähigkeiten die Spur zu meinem Klienten mühelos zurückverfolgen könnten, aber ich muß Sie bitten, es als Ehrensache zu betrachten, daß Sie dies unterlassen und sein Inkognito nicht verletzen.«
Holmes lächelte verschmitzt.
»Ich glaube, das kann ich mit Sicherheit versprechen«, sagte er. »Ich möchte hinzufügen, daß mich Ihr Problem interessiert und daß ich bereit bin, mich damit zu befassen. Wie kann ich mit Ihnen in Verbindung bleiben?«
»Man findet mich über den Carlton Club. Aber für Notfalle gibt es einen privaten Telephonanschluß: XX.31.«
Holmes notierte die Nummer und saß, noch immer lächelnd, mit dem geöffneten Notizbuch auf dem Knie da.
»Und die gegenwärtige Adresse des Barons, bitte?«
»Vernon Lodge, in der Nähe von Kingston. Es ist ein großes Haus. Er hatte bei einigen ziemlich anrüchigen Spekulationen Glück und ist ein reicher Mann, was ihn natürlich zu einem noch gefährlicheren Gegner macht.«
»Hält er sich gegenwärtig zu Hause auf?«
»Ja.«
»Können Sie mir abgesehen von dem, was Sie mir bereits mitgeteilt haben, noch weitere Informationen über den Mann geben?«
»Er hat kostspielige Neigungen. Er ist Pferdezüchter. Eine kurze Zeit lang spielte er Polo in Hurlingham, aber dann erregte diese Prager Affäre Aufsehen, und er mußte damit aufhören. Er sammelt Bücher und Gemälde. Er hat auch eine ausgeprägte künstlerische Seite. Er ist, soviel ich weiß, eine anerkannte Autorität für chinesische Keramik und hat darüber bereits ein Buch geschrieben.«
»Ein vielseitiger Geist«, sagte Holmes. »Das haben alle großen Verbrecher so an sich. Mein alter Freund Charlie Peace9 war ein Violinvirtuose. Wainwright10 war kein übler Künstler. Ich könnte noch viele anführen. Nun gut, Sir James, Sie können Ihrem Klienten ausrichten, daß ich mein Augenmerk auf Baron Grüner richten werde. Mehr kann ich jetzt nicht sagen. Ich besitze ein paar eigene Informationsquellen und glaube, wir werden Mittel und Wege finden, die Sache in Gang zu setzen.«
Als unser Besucher gegangen war, saß Holmes so lange in tiefen Gedanken da, daß es mir vorkam, als habe er meine Anwesenheit vergessen. Aber schließlich fand er unvermittelt auf den Boden der Wirklichkeit zurück. »Na, Watson, schon eine Idee?« fragte er.
»Ich würde es für das beste halten, wenn Sie einmal mit der jungen Lady selbst sprächen.«
»Mein lieber Watson, wenn ihr armer alter gebrochener Vater sie nicht umstimmen kann, wie soll dann ich, ein Fremder, es schaffen? Falls jedoch alle Stricke reißen, hat der Vorschlag etwas für sich. Aber ich glaube, wir müssen den Hebel woanders ansetzen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß Shinwell Johnson uns dabei weiterhilft.«
Ich hatte in diesen Memoiren noch keine Gelegenheit, Shinwell Johnson zu erwähnen, weil ich meine Darstellungen nur selten den späteren Phasen der Karriere meines Freundes entnommen habe. Er wurde während der ersten Jahre dieses Jahrhunderts zu einem wertvollen Gehilfen. Johnson, ich sage es mit Bedauern, machte sich zuerst als sehr gefährlicher Schurke einen Namen und büßte zweimal eine Strafe in Parkhurst11 ab. Schließlich bereute er und verbündete sich mit Holmes, indem er als sein Agent in Londons riesiger Unterwelt agierte und zu Informationen gelangte, die sich oft als lebenswichtig erwiesen. Wäre Johnson ein Polizeispitzel gewesen, hätte man ihn bald entlarvt; aber da er sich nur auf Falle einließ, die nicht gleich vor Gericht kamen, wurden seine Aktivitäten von seinen Kumpanen niemals bemerkt. Der Glanz seiner beiden Verurteilungen verschaffte ihm Zutritt zu jedem Nachtclub, jeder Absteige und jeder Spielhölle der Stadt, und seine scharfe Beobachtungsgabe sowie sein rascher Verstand machten ihn zu einem idealen Agenten für die Beschaffung von Informationen. Und just an diesen Mann gedachte Sherlock Holmes sich nun zu wenden.
Es war mir nicht möglich, Holmes' unmittelbar anschließende Schritte zu verfolgen, da ich meinerseits einige dringende berufliche Verpflichtungen hatte; aber ich traf ihn, wie verabredet, noch am gleichen Abend im Simpson's, wo wir an einem kleinen Tisch am Vorderfenster saßen, auf den dahinrauschenden Lebensstrom des Strand12 hinabblickten und er mir einiges von dem erzählte, was inzwischen geschehen war.
»Johnson ist schon auf der Pirsch«, sagte er. »Er wird in den dunkleren Schlupfwinkeln der Unterwelt wohl manchen Unrat auflesen, denn genau dort unten, inmitten der schwarzen Wurzeln des Verbrechens, müssen wir auf die Geheimnisse dieses Mannes Jagd machen.«
»Wenn aber die Lady nicht glauben will, was längst bekannt ist, warum sollte dann irgendeine neue Enthüllung von Ihnen sie von ihrem Vorsatz abbringen?«
»Wer weiß, Watson? Frauenherz und Frauensinn sind dem Manne unlösbare Rätsel. Sie mögen einen Mord verzeihen oder rechtfertigen; aber irgendein geringeres Vergehen kann ihr Herz zernagen. Baron Grüner sagte mir ...«
»Er sagte Ihnen!«
»Ach so, natürlich, ich hatte Ihnen ja nichts von meinen Plänen erzählt. Tja, Watson, ich liebe nun mal die direkte Auseinandersetzung mit meinem Gegner. Ich stehe ihm gerne Auge in Auge gegenüber und deute mir selbst den Stoff, aus dem er gemacht ist. Nachdem ich Johnson seine Instruktionen erteilt hatte, nahm ich eine Droschke nach Kingston und traf den Baron in höchst leutseliger Stimmung an.«
»Wußte er, wer Sie sind?«
»Das war nicht schwierig, ich habe ihm nämlich einfach meine Karte geschickt. Er ist ein vortrefflicher Gegner, eiskalt, mit seidenweicher Stimme; er wirkt besänftigend wie eine Ihrer ärztlichen Autoritäten und ist gleichwohl giftig wie eine Kobra. Er besitzt Lebensart – ein echter Aristokrat des Verbrechens, der einem obenhin den Nachmittagstee anbietet, während darunter die ganze Grausamkeit des Grabes lauert. Ja, ich bin froh, daß meine Aufmerksamkeit auf Baron Adelbert Grüner gelenkt worden ist.«
»Sie sagen, er war leutselig?«
»Ein schnurrender Kater, der sich seiner Mäuse sicher fühlt. Die Leutseligkeit mancher Menschen ist tödlicher als die Gewalttätigkeit gröberer Seelen. Seine Begrüßung war charakteristisch. ›Ich dachte mir fast, daß ich Sie früher oder später kennenlernen würde, Mr. Holmes‹, sagte er. ›Zweifellos hat Sie General de Merville engagiert, damit Sie sich bemühen, meine Heirat mit seiner Tochter Violet zu verhindern. So ist es doch, nicht wahr?‹
Ich gab es zu.
›Mein Lieber‹, sagte er, ›Sie werden sich dabei nur Ihren wohlverdienten Ruf ruinieren. Das ist kein Fall, den Sie erfolgreich abschließen könnten. Fruchtlose Arbeit käme auf Sie zu, zu schweigen von mancher Gefahr, der Sie sich aussetzen würden. Lassen Sie mich Ihnen aufs nachdrücklichste raten, sich unverzüglich aus der Sache zurückzuziehen.‹
›Seltsam‹, antwortete ich, ›aber genau diesen Rat wollte ich Ihnen eigentlich geben. Ich achte Ihren Verstand hoch, Baron, und das wenige, was ich von Ihrer Person bis jetzt kennengelernt habe, hat meine Wertschätzung nicht verringert. Ich will von Mann zu Mann an Sie appellieren. Niemand möchte Ihre Vergangenheit aufrühren und Ihnen unnötige Unannehmlichkeiten bereiten. Das ist vorbei, und die Wogen haben sich nun geglättet