Unschärfe im Sinne einer mangelnden Unterscheidbarkeit repräsentiert eine weitere Kategorie von Vieldeutigkeit. Sie ist charakteristisch für multifunktionale Entitäten (z. B. Dual Use-Güter), Karteileichen und zahlreiche Hybridkonstrukte. Man denke etwa an produzierende Dienstleister und dienstleistende Produzenten, arbeitnehmerähnliche Auftragsunternehmer, die mangelnde Trennschärfe zwischen Arbeitszeit und Freizeit, z. B. bei Home Office-Modellen, sowie die Geschäftsbeziehung zwischen Sparern und Banken, die sowohl als eine Überlassung von Finanzmitteln (gegen positive Zinsen) als auch als deren sichere Verwahrung durch die Bank (gegen negative Zinsen) interpretiert werden kann.
Mangelnde Echtheit oder fehlende Authentizität liegen vor, wenn man Sein und Schein nicht auseinanderhalten kann. Diese Komplexität tritt beispielsweise auf im Zusammenhang mit Scheinselbständigkeit (arbeitnehmerähnliche Tätigkeit eines Selbständigen), Nachahmungen und Nachbildungen (z. B. Klone, Digital Twins, naturidentischen Aromastoffen, Marktsimulationen, Verrechnungspreisen statt Markpreisen, Kunstschnee, Dermoplastik), sogenannten Matrixsurrogaten (z. B. gemischt konfigurierte Gruppen), Fake News, Fälschungen, Kopien, Falschgeld, Produktpiraterie (Produktfälschungen), Plagiaten, Gerüchten, Vermutungen, Halbwahrheiten sowie irreführenden Tricks.
Mehrdeutigkeit repräsentiert je nach Kontext nicht nur einen Komplexitätsbedarf, sondern auch ein Komplexitätspotenzial. Auf Mehrdeutigkeit basieren zahlreiche Geschäftsmodelle, nicht nur von Illusionisten, Zauberern oder Bauchrednern, sondern auch von Insidern. Das gilt ebenso für die Vermarktung von Lebensmitteln als Heilmitteln oder von Brillen als modischen Accessoires. Die Beispiele verdeutlichen, dass nicht nur Einzigartigkeit und Unverkennbarkeit, sondern auch Ambiguität als Basis für Wettbewerbsvorteile fungieren kann. Das Spektrum der Ambiguitätspotenziale wird komplettiert durch (kontingente) Alternativpläne, Handlungsspielräume, Ambiguitätstoleranz, Fehlertoleranz, Toleranz von Gruppen gegenüber abweichendem Mitgliederverhalten und durch Robustheit, wenn die Funktionstüchtigkeit eines Systems nicht durch Veränderungen und Fehleinschätzungen beeinträchtigt wird.
Veränderlichkeit fungiert als Sammelbegriff für alternative Ausprägungen, die nicht wie bei der Vieldeutigkeit zum selben Zeitpunkt, sondern sequenziell verteilt über die Zeitachse auftreten. Das Spektrum der Veränderungsmuster umfasst das (annähernd) lineare Wachstum (z. B. globale Erwärmung), das exponentielle Wachstum (z. B. Epidemien, Leverage-Effekte, galoppierende Inflation), aber auch rhythmische Veränderungsmuster. Sie werden induziert durch Legislaturperioden oder Rotationssysteme (z. B. EU-Ratspräsidentschaft) sowie durch Oszillationen, zyklische Phänomene im Konjunkturverlauf, im Klima und im Geschäftsverlauf, etwa Moden, Weihnachtsgeschäft und Kundenfrequenzen im Tagesablauf.
Für hohe Veränderlichkeit sorgen Unstetigkeiten (z. B. erratische Extremwetterlagen, mutierende Viren, Sprünge), hohe Veränderungshäufigkeiten (z. B. Änderungen der Treibstoffpreise pro Tag), Schwellenwerte (etwa Wachstumsschwellen), fluktuierenden Mengen von Sonnen- und Windenergie, kurzlebige Strohfeuer, Hypes und temporäre Lösungsansätze (Braun/ Sydow 2019): Man denke etwa an die Projectification (Geschäfte werden zunehmend als Sonderaufgaben und nicht als Regelaufgaben abgewickelt), das Geschäftsmodell der Gig Economy, das Interim-Management oder die befristete Beschäftigung. Im Gegensatz dazu stehen Stationärität, Stillstand, Reformstau, Habitualisierung oder Pfadabhängigkeit für eine schwach ausgeprägte Veränderlichkeit.
Nicht selten deckt jede der vier Komplexitätsdimensionen weitere Komplexitätsaspekte als Subdimensionen ab. So wird in der Zeitreihenanalyse von Konjunkturdaten oder Klimadaten davon ausgegangen, dass die Dynamik aus einem oder mehreren systematischen Mustern (z. B. Erderwärmungstrend, saisonale Schwankungen, Langzeitzyklen) und zufälligem Rauschen (z. B. extreme und unregelmäßige Wetterphänomene, Schocks) besteht.
Wie in Abbildung 2 dargestellt, kann das gesamte Spektrum der Beispiele für Komplexität durch eine Kombination von vier Komplexitätsdimensionen ausgelegt und erklärt werden. Dieses Dachkonzept vereint die getrennte Modellierung von Komplexität, Vielzahligkeit, Dynamik und Unsicherheit. Hieraus ergeben sich zunächst marginale Konsequenzen für die Komplexitätssemantik. So müssen bei der Anwendung der vierdimensionalen 4V-Terminologie die Begriffe »komplexes adaptives System« oder »komplexe dynamische Systeme« (McDaniel jr. 2007; Schneider/ Somers 2006; Turner/ Baker/ Morris 2018) dahingehend umformuliert werden, dass auf zwei Dimensionen der Komplexität verwiesen wird, z. B. auf »heterogen konfigurierte und adaptive/dynamische Systeme«.
Deutlich mehr Relevanz hat die Notwendigkeit, bestimmte Domänen nicht selektiv anhand einer einzigen Komplexitätsdimension, sondern anhand eines vierdimensionalen 4V-Komplexitätsprofils zu beschreiben. Komplexe Interaktionen im 4V-Profil sind beispielsweise durch mehrere Akteure (Beschreibungsformeln: »It Takes Three to Tango« oder »Triple Win«), Machtunterschiede (z. B. Informationsasymmetrie), Mixed Motives, den Aufbau von Gemeinsamkeiten (z. B. einer Vertrauensbasis) oder den Wechsel von Zusammenarbeit zu Wettbewerb gekennzeichnet. Das Komplexitätsprofil des vollkommenen Marktes steht im Zeichen einer extrem reduzierten Komplexität. Sie äußert sich in der Homogenität von Gütern bzw. der Präferenzfreiheit von Akteursbeziehungen (Gesetz von der Unterschiedslosigkeit der Preise), in einmaligen Spot-Transaktionen und dem Fehlen von Intransparenz, externen Effekten, Unsicherheit, Reaktions- und Wirkungslags sowie Informationsdefiziten. Wenn man im Zusammenhang mit diesem Lehrbuchkonzept von »hoher Komplexität« sprechen kann, dann lediglich mit Verweis auf die extreme Abweichung des Konzepts von der Realität.
Das 4V-Komplexitätsprofil des Kostenbegriffs setzt sich aus dem Mengengerüst, der Vielfalt von Kostenkategorien (z. B. fixe und variable Kosten, Vorlauf- und Betriebskosten in Lebenszykluskostenmodell), der mangelnden Zurechenbarkeit von Gemeinkosten (»indirekte Kosten«) sowie der Kostenreagibilität gegenüber Kosteneinflussgrößen zusammen. Das Komplexitätsprofil des Versicherungsprinzips ist durch das Spannungsfeld zwischen der Vielzahl (Umfang des Risikoausgleichskollektivs, Gesetz der großen Zahl) einerseits und der Vielfalt, d. h. der Ausgewogenheit von guten und schlechten Risiken, andererseits geprägt. Vieldeutigkeit betrifft nicht nur die Risiken als die generische Ursache für Versicherungen. Hinzu kommen institutionelle Risiken aus den Vertragsbeziehungen, etwa Manipulationsrisiko, Versicherungsbetrug, Doppelversicherung oder die Adverse Selektion. Veränderlichkeit im Versicherungswesen hat u. a. exogene Ursachen, beispielsweise den demographischen Wandel, die Niedrigzins-Konstellation auf Anlagemärkten, vermehrt auftretende Naturkatastrophen oder innovative informationstechnische Infrastrukturen zur Erfassung von Daten über Versicherungsnehmer, etwa für sogenannte Telematik-Tarife in der Kraftfahrzeugversicherung.
Das Komplexitätsprofil von Demokratie ist geprägt durch das Mehrheitsprinzip (z. B. absolute und einfache Mehrheiten), Mehrparteien-Systeme, Gewaltenteilung, Mischung von direkter und indirekter Willensbildung sowie durch das Gleichheitsprinzip. Dadurch kann z. B. Pluralismus zustande kommen, zusätzlich abgesichert durch einen Minderheitenschutz, um die »Tyrannei der Mehrheit« zu vermeiden. Ein Mehrparteiensystem aus kleineren Parteien erschwert die Prognostizierbarkeit der Regierungsbildung. Der Wechsel von Regierungen geschieht nach einem regelmäßigen Muster (Legislaturperioden, Amtszeiten) oder durch ereignisinduzierte Misstrauensvoten bzw. Rücktritte.
Unvollständige Komplexitätsprofile beeinträchtigen die Brauchbarkeit der jeweiligen Modelle. Ein Paradebeispiel für lückenhafte Komplexitätsprofile sind die Modelle unter Sicherheit wie z. B. die Kennzahlen der Netzwerkanalyse, Entscheidungsmodelle unter Sicherheit oder Prioritätsregeln. Sie enthalten keinerlei Aussagen über die Komplexitätsdimensionen »Ambiguität«, »Unsicherheit« und »Veränderlichkeit«.
Zum besseren Verständnis des Wesens der Komplexität sind die vier Dimensionen in Abbildung 2 auf zwei »Archetypen« komprimiert worden: Die beiden Dimensionen der »Sowohl als auch-«, »Konjunktiv-« oder »Additiv«-Komplexität (mitunter auch »Kompliziertheit« oder organisierte Komplexität genannt) können zu Diversität konsolidiert werden, da Diversität stets mindestens zwei Elemente und damit eine Vielzahl impliziert. Analog werden die beiden Dimensionen der »Entweder-Oder-«, »Disjunktiv-« oder »Alternativ«-Komplexität (»unorganisierte Komplexität«) zur Dynamik zusammengefasst, da Veränderlichkeit wie auch Vieldeutigkeit die Identität einer Entität im Laufe der Zeit verringern. Will man eine extrem komprimierte Charakterisierung anhand von Symbolen