Abb. 1: Spezifikationsgrade des Komplexitätskonstrukts
Die selektiven Spezifikationen beschränken sich auf eine partielle Charakterisierung eines Komplexitätskonstrukts. Bei einer lückenhaften Streikankündigung beispielsweise fehlen Angaben zum Streikbeginn und den bestreikten Standorten. Zur Messung der Unternehmensgröße wird analog nur eines der drei Standardgrößenmerkmale Umsatz, Mitarbeiterzahl und Bilanzvolumen herangezogen. Bei Wachstumsraten fehlen Angaben zum Bezugszeitraum. Der Operationalisierungsgrad als weiterer Spezifikationsparameter hängt entscheidend vom Skalenniveau ab: Das Wachstum von Unternehmen lässt sich qualitativ durch »schnell wachsend« (bildhaft: »Gazelle Companies«) oder quantitativ durch Angabe der jährlichen Wachstumsraten von beispielsweise 20 % erfassen. Analog kann man die Größe von sozialen Netzwerken durch »Mega« oder durch Nutzerzahlen (z. B. 2,5 Mrd. Nutzer) erfassen. Auf höheren Skalenniveaus stehen für unscharfe Spezifikationen zudem Intervallangaben statt Punktangaben zur Verfügung, z. B. bei Preis- oder Zeitspezifikationen. Wahrscheinlichkeitsangaben eignen sich zur quantitativen Erfassung von Unsicherheit (
Der Detaillierungsgrad steigt beim Übergang von Produktprogrammen auf Produkte, von Angaben zum Flottenverbrauch auf den Verbrauch von einzelnen Fahrzeugbaureihen, von Jahreswerten auf Quartalswerte, von globalen auf nationale Werte sowie von groben Anforderungsbeschreibungen (»Epics«) auf detaillierte Anforderungsspezifikationen. Eine Grobspezifikation von Transaktionskosten erfasst beispielsweise die Gesamtkosten einer Transaktion (z. B. Vermittlungsprovisionen bei Immobilientransaktion), eine detaillierte Spezifikation hingegen die Kosten für die einzelnen Transaktionspartner, also Käufer und Verkäufer. Die Verfahren der Gesamtkostenauflösung nach Kostenkategorien (z. B. Einzel- und Gemeinkosten) und nach Kostenarten liefern ebenfalls detailliertere Informationen.
Die Ermittlung des Kraftstoffverbrauchs eines Fahrzeugs erfolgt meist konditionalisiert nach Nutzung innerorts oder ausserorts. Der Konditionalisierungsgrad von Angebotsmengen ist niedrig bei Kontingenten mit einem Festpreis und hoch bei preiselastischem Angebotsverhalten. Der Standardisierungsgrad ist hoch, wenn auf Durchschnittswerte (über mehrere Perioden oder Unternehmen), Modalwerte und typische Ausprägungen Bezug genommen wird, z. B. Max Mustermann, eine Kunden-Persona, ein 4-Personen-Haushalt oder anonyme Adressaten »To Whom it May Concern« bzw. »N.N.« (Nomen Nominandum).
Zusammenfassend erläutert das Beispiel »Spezifikation des Zeitbezugs« nochmals die fünf Spezifikationsparameter: Eine selektive Zeitspezifikation zeichnet sich dadurch aus, dass der Zeitbezug gänzlich fehlt oder nur Angaben zum Zeitpunkt, aber nicht zum Zeitraum vorliegen. Präzise Zeitraumangaben äußern sich in sekundengenauen Abrechnungen, wenig präzise hingegen in Zeitintervallen, z. B. Puffer. Eine mehr oder weniger detaillierte Spezifikation von Arbeitszeiten basiert auf Stunden oder auf Schichten oder Tagen oder Wochen oder Jahren oder auf der Lebensarbeit. Konditionalisierte Zeitpunktspezifikation in Flug- und Fahrplänen differenzieren beispielsweise die Ankunftszeiten in Abhängigkeit von Wetterbedingungen oder Verkehrsdichte. Standardisierte Zeitraumangaben beruhen auf äquidistanten Perioden, z. B. dem Basisjahr für die Zinsberechnung mit einheitlich 365 oder 360 Tagen oder einem Zinsmonat mit einheitlich 30 Tagen. Demgegenüber ist ein Episodenzeitbezug nicht standardisiert, etwa wenn im Lebenszyklusmanagement von Gebrauchsgütern zwischen der Entwicklungsphase und der Betriebsphase unterschieden wird.
Die Spezifikation spielt nicht nur für die Terminologie der Komplexität, sondern darüber hinaus auch für das Management der Komplexität eine Rolle (
1.2.2 Komponenten der Komplexität
Im Gegensatz zu den dominanten Ansätzen, die Komplexität ausschließlich als Last, Bedarf, Risikofaktor, Härte, Störfaktor oder Übel betrachten, unterscheidet ein ausgewogener Ansatz zwischen zwei gegensätzlichen Bausteinen des Komplexitätsfaktors »Komponenten der Komplexität« (Reiss 2004): Zum einen den Komplexitätsbedarf (Komplexitätslast) und zum anderen das Komplexitätshandhabungspotential (kurz: Komplexitätspotenzial), das für die Handhabung dieser Last genutzt werden kann.
Die Gegensätzlichkeit von Bedarf und Potenzial lässt sich anschaulich anhand der Zeit-Domäne illustrieren. Hier gibt es zwei Zeitkonzepte und zwei Zeitrechnungen: Zum einen die Bedarfszeitrechnung: Sie wird spezifiziert durch Öffnungszeiten, Endtermine, Zeithorizonte, Vertragslaufzeiten, Bedarfsfristigkeit (z. B. langfristige Probleme), Erfüllungszeitpunkte, Lieferzeiten, Wartezeiten (z. B. an Grenzübergängen, Kassen oder in Callcenter-Warteschleifen), Zeitbedarfe für die Problemerkennung, für das Ergreifen einer Maßnahme und für die Entfaltung von Wirkungen dieser Maßnahme (»Latency«), Durchlaufzeiten (Wartezeit, Antwortzeit, Liegezeit und Bearbeitungszeit) und Zeitmodule (Zeitbedarf von Arbeitspaketen, Sprints).
Zum anderen gibt es die Potenzialzeitrechnung. Auch das Spektrum der Potenzialzeiten ist sehr umfangreich. Es enthält Betriebszeiten (z. B. Auslastungsgrad, Nutzungsgrad, Leerzeiten, Stillstandzeiten), Verfügbarkeitszeiten von Ressourcen, etwa Manpower (nominale Arbeitszeit abzüglich Fehlzeiten) und Anlagen (maximale Betriebszeit abzüglich Wartungszeiten und störungsbedingte Downtime) oder von digitalen Produkten wie Podcasts in Mediatheken, Teilzeitarbeit, zeitbezogene Nutzungsrechte wie Flughafenslots (für Start bzw. Landung auf Flughäfen), Zeitfenster (für die Rampennutzung) oder Time Slices für die Systemnutzung, Schichtzeit, Lebensarbeitszeit, Zeitguthaben auf Zeitkonten, Redezeiten sowie die Zeitgerüste von Entgelten (z. B. Arbeitsstunden).
In gewisser Weise wird das Wesen des Konfliktmanagements durch die Gegenüberstellung von Komplexitätspotenzial und Komplexitätslast definiert. Dort repräsentiert ein Objekt, sei es ein Streitwert, das Marktpotenzial, eine Person, ein Erbe, ein Territorium, ein Wertschöpfungsbetrag, ein Ressourcenpool oder ein Patent, das Komplexitätspotenzial. Es wird plakativ auch als »Pie« bezeichnet. Die Ansprüche der Konfliktparteien an diesen Pie bilden den Komplexitätsbedarf. Sind die Ansprüche, also Spannen, Margen, Anteile oder geforderte Verfügungsrechte in ihrer Gesamtheit insofern nicht kompatibel, als diese »Pieces« in ihrer Summe größer sind als der Pie, liegt eine Inkongruenz vor, die gemeinhin als Konflikt bezeichnet wird.
Im Zusammenhang mit zahlreichen Komplexitätskonstrukten wie z. B. »Mehrsprachigkeit« ist jeweils zu klären, ob es in der Funktion einer Last (Aufgabenerfüllung in Fremdsprachen) oder eines Potenzials (sprachliche Vielseitigkeit von Dolmetschern) gemeint ist. Das Komplexitätspotenzial bildet dabei einen Teilbereich der Management-Kompetenz zur Komplexitätshandhabung. Diese Komplexitätskompetenz ist insofern umfassender als das Komplexitätspotenzial, als sie sich nicht auf die Beeinflussung von Potenzialen beschränkt, sondern zusätzlich auch die Beeinflussung des Komplexitätsbedarfs abdeckt, etwa durch Entkopplung oder durch Dramatisierung.
Das Spektrum der Komplexitätspotenziale umfasst zum einen Bausteine, die innerhalb einer inhaltlichen Modellierung als harte Faktoren gelten. Die Palette enthält beispielsweise Skalierbarkeit (z. B. Speicherplatzerweiterung), eingebaute Flexibilität, verzögerungstolerante Vernetzung, Aufwärtskompatibilität, Schlupf, Puffer, Fehlertoleranz, komplexe adaptive Systeme, Kapazitäten und Flächen von Facilities und Grundstücken.
Eine umfangreiche Potenzialkategorie bilden die informatorischen und informationstechnischen Potenziale. Hierzu zählen Lösungsalgorithmen und Heuristiken (Loock/ Hinnen 2015; Gigerenzer/ Todd/ ABC Research Group 1999; Gigerenzer/ Hertwig/ Pachur 2011), intelligente und smarte Devices (z. B. künstliche Intelligenz, intelligente Textilien, Smart Homes, Connected Cars), Big Data Analytics, die Warehouse Management Software