Komplexitätsmanagement. Michael Reiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Reiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783170355958
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      1.2.5.3 Dimensionen-Verbund

      So wie Licht auch Schatten erzeugt, sind bestimmte Komplexitätsdimensionen verantwortlich für Komplexität auf anderen Dimensionen. Vor allem kommt weder Diversität noch Ambiguität noch Veränderlichkeit zustande, wenn keine heterogen konfigurierte Menge von möglichen Merkmalsausprägungen existiert. Im Fall von Diversität steht diese Menge für eine Vielzahl von realisierten, gleichzeitig auftretenden Elementen, im Fall von Ambiguität und Dynamik für eine Menge von möglichen, alternativ auftretenden Elementen. Insofern besitzen Kompliziertheit und Komplexität also gemeinsame Fundamente. Die Abbildung 3 vermittelt einen Überblick über einseitige und wechselseitige Verbundbeziehungen zwischen jeweils zwei der vier Komplexitätsdimensionen.

      (I) Vielzahl & Vielfalt: In Netzwerken fördert die Vielzahl von Mitgliedern die Vielfalt, z. B. auch in Gestalt von schwarzen Schafen, Randalierern (bei friedlichen Demonstrationen), Trittbrettfahrern, unerwünschten Drittanbietern oder schlechten Risiken in einer Versicherungsgemeinschaft. Eine variantenreiche Produktion (z. B. Ländervarianten, Motorvarianten, Farbvarianten oder Karosserie-Varianten im Fahrzeugbau) geht mit geringeren Stückzahlen pro Variante einher. Die Gegensätzlichkeit von Vertragsparteien (z. B. EU und Nicht-EU) erhöht den Bedarf an Intermediären und damit die Zahl der involvierten Parteien, z. B. in Form von CETA-Schiedsgerichten. Sogenannte selbstähnliche Systeme (z. B. Unternehmen im Unternehmen, Fabriken in der Fabrik) setzen sich aus mehreren Hierarchie-Ebenen zusammen. Dies führt jedoch nicht zu mehr Diversität, weil auf jeder der Ebenen dasselbe Gestaltungsprinzip zur Anwendung kommt. In sozialen Gebilden (z. B. politischen Parteien oder Familien) beeinflussen Koalitionsbildung oder Spaltung und andere Modifikationen der Vielfalt auch die Anzahl der relevanten individuellen und/oder kollektiven Akteure. Nach dem Gesetz der großen Zahlen führt eine häufige Erhebung von Schätzwerten (»mehr

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      Abb. 3: Verbundbeziehungen zwischen Komplexitätsdimensionen

      Vielzahl«) für die Verteilungsparameter von Zufallszahlen zu abnehmenden Abweichungen (»weniger Vielfalt«) vom wahren Wert des Verteilungsparameters. Vielfalt in Form von Konflikten wird beispielsweise in der Politik durch komplexe Kompromisse gemeistert, die die Vielzahl erhöhen, etwa die Anzahl von Ministerien bei einer Koalitionsregierung.

      (II) Vieldeutigkeit & Veränderlichkeit: Ein Verbund zwischen Vieldeutigkeit und Veränderlichkeit kommt durch Bifurkationen zustande. Im Fall einer sogenannten Pitchfork-Bifurkation verändert sich ein System von einem (stabilen) Gleichgewicht in drei Gleichgewichtslagen, konkret eine instabile und zwei stabile Konstellationen. Fehleinschätzungen der Nachhaltigkeit von Veränderungen (z. B. Fehlinterpretation von kurzfristigen Immobilienblasen als langfristiges Marktwachstum) erzeugen volatile und zyklische Veränderungsmuster (z. B. Immobilienzyklen). Beim geschichteten Wandel (Sedimented Change) wird die Veränderungsrate verringert, die Mehrdeutigkeit infolge der Überlagerung alter und neuer Regeln hingegen erhöht. Sogenannte Swing Voters sind lange Zeit unentschlossen und verändern ihr Wahlverhalten häufig.

      (III) Vielfalt & Vieldeutigkeit: Jede multifaktorielle Verursachung (Vielfalt) behindert die eindeutige Zurechnung von Wirkungen auf einzelne Ursachen, wie etwa im Beispiel der unklaren Attribution von Teamleistung auf die einzelnen Teammitglieder. Zielkonflikte generieren Zweifel, Orientierungsunsicherheiten und Orientierungslosigkeit. Mehrere Fachsprachen, die dieselben Bezeichnungen mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen verwenden (z. B. »Institution«) provozieren Missverständnisse. Umgekehrt erzeugt Ambiguität, etwa in Gestalt von »Gummiparagraphen«, zusätzliche Streitigkeiten. Intermediäre, z. B. ein Anlageberater oder ein Makler, werden von einem Anleger beauftragt und agieren folglich in einer Dreiakteurskonstellation aus Anleger, Makler und Fondsgesellschaften. Diese Vielfalt erzeugt möglicherweise eine charakteristische Intransparenz in Gestalt von verdeckten Provisionen (Kick-Backs): Ein Anlageberater sollte die Interessen der Anleger gegenüber den Fondsgesellschaften vertreten. Sobald jedoch von diesen (für den Anleger intransparente) Vermittlungsprovisionen an den Berater gezahlt werden, entsteht für den Berater ein Interessenkonflikt, der die Verfolgung der Interessen des Anlegers in Frage stellt.

      (IV) Vielzahl & Veränderlichkeit: Mutierende Viren verursachen höhere Fallzahlen bei einer Epidemie. Die steigende Zahl politischer Parteien erhöht die Instabilität von Regierungskoalitionen, die notwendig werden, um Mehrheiten zu etablieren.

      (IV) Vielfalt & Veränderlichkeit: Werden Gewohnheiten durch das Aufzeigen von Alternativen (Vielfalt) hinterfragt, kann das eine Verhaltensänderung induzieren. Auch Konflikte repräsentieren eine Ursache von Wandel (Schaller-Demers 2008). Umgekehrt kann fehlendes Wachstum (z. B. Stagnation) zu intensiveren Verteilungskonflikten führen.

      (V) Diversität & Dynamik: Eine Orientierungsunsicherheit bei der Lösung von Problemen erhöht die Anzahl und die Streuung von Lösungsschritten, etwa in Form eines Zickzack-Kurses, eines »Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück«-Vorgehensmusters oder von Iterationen. In der Politik erweisen sich Minderheitsregierungen oder knappe Mehrheiten in Parlamenten, die durch ein Abweichen vom demokratischen Mehrheitsprinzip zustande kommen, als instabil. In der Medizin verursacht eine fehlende Eindeutigkeit der Diagnose einer Krankheit (z. B. im Fall unbekannter Viren) eine verstärkte Ausbreitung der Krankheit (Vielzahl). Zusammengesetzte Preise, also mehrere bekannte Preisbestandteile (z. B. Mineralölsteuer, Ökosteuer, Erdölbevorratungsbeitrag, Mehrwertsteuer), verbessern die Preistransparenz für die Abnehmer (Greenleaf et al. 2016).

      Eine komplexere Variante des Dimensionen-Verbunds ist der mehrstufige Verbund über mehr als zwei Komplexitätsdimensionen. Er lässt sich beispielsweise dadurch generieren, dass man mehrere zweistufige Verbundbeziehungen verkettet. So münden z. B. konfliktäre Mehrfachzielsetzungen nicht selten in schwammige Kompromisse, die wiederum neue Konflikte auslösen. Wie uns die Forschung zum Einstellungswandel lehrt, kommt ein Wandel nur zustande, wenn die Erschütterung vorhandener Einstellungen durch Hinweise auf alternative Einstellungen (Unfreeze) mit Argumenten kombiniert wird, die für eine konkrete Handlungsoption (Move) sprechen. Beim Job Sharing beispielsweise sorgt nicht allein die Zahl der Stelleninhaber, sondern deren Diversität für flexible Möglichkeiten einer Arbeitsteilung, z. B. mit Blick auf familienorientierte Arbeitszeiten. Hinzu kommen Optionen der Stellvertretung bei Ausfall von einem der Stelleninhaber.

      Der anhand von Beispielen skizzierte Dimensionen-Verbund hat zur Folge, dass man beispielsweise das Wesen von Hybriden nicht eindeutig anhand einer spezifischen Komplexitätsdimension, sondern anhand mehrerer, sehr unterschiedlicher Komplexitätsmerkmale definieren kann: So steht eine doppelte Staatsbürgerschaft z. B. einerseits für Diversität (stark ausgeprägte Vielfalt), andererseits für Ambiguität, d. h. eine schwach ausgeprägte Identität. Ähnlich kann man die Eignung von Cash Flow als Liquiditäts- und als Ertragskennzahl aus der Komplexitätsperspektive zum einen als (additive) Multifunktionalität, zum anderen als (alternative) Ambiguität interpretieren.

      1.2.5.4 Domänen-Verbund

      Die hochgradige Vernetztheit von Prozessen und Ereignissen erfordert einen ganzheitlichen Zugang, der mehrere Domänen miteinander verbundener Komplexitätsphänomene abdeckt. Mit anderen Worten erzeugt die Komplexität auf der Objektebene (»Allverbundenheit«) eine weitere Facette der Metakomplexität. Komplexität ist in aller Regel kein »lokales« Phänomen. Die isolierte Auseinandersetzung mit der Komplexität eines Unternehmens, eines Marktes, einer Geschäftseinheit, einer Abteilung, einer Legislaturperiode (von einem Wahltermin zum nächsten Wahltermin) oder einer Lebenszyklusphase, abgekoppelt von anderen Systemen oder Subsystemen, wird in aller Regel den tatsächlichen Umfang der jeweiligen Komplexität unterschätzen, etwa die Komplexität einer Supply Chain oder eines Produktlebenszyklus. Bekanntlich erlaubt beispielsweise die Identifikation lokaler Engpässe noch keine Identifikation des Minimumsektors. Ebenso wenig repräsentieren lokale Optima das Gesamtoptimum. Klassische Abhängigkeiten bestehen des Weiteren zwischen den Domänen »Realgütersphäre« und »Finanzsphäre« sowie zwischen Produktkomplexität und Prozesskomplexität (Adam/ Johannwille 1998). Auch die Tensor-Organisation mit einer Projekt-, Produkt- und Funktions-Domäne gehört in diese Kategorie.