Die Zeit ohne uns. Rupert van Gerven. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rupert van Gerven
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957712776
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gut voran? In deinen Briefen berichtest du mir nie, wie es an der Universität so vor sich geht. Ein Vater will doch wissen, wie sich sein einziger Sohn macht. Theologie ist nicht irgendetwas, du wirst einmal sehr viel Verantwortung übernehmen müssen. Wie sind denn deine Professoren? Sind sie mit dir zufrieden? Vor allem, wenn du Predigten halten wirst, musst du vor den Kommunisten warnen. Kann ja politisch jeder denken, wie er will, aber ohne Gott und seine Herrlichkeit, da sehe ich schwarz.«

      Herbert fühlt sich unwohl, nicht nur, weil er noch immer vorgibt, Theologie zu studieren, sondern auch, weil die Bewunderung für seinen verschrobenen Vater längst der Realität gewichen ist. Wie wird sein Vater reagieren, wenn er von seinen politischen Träumen erfährt? Natürlich muss er es ihm irgendwann erzählen, doch bitte noch nicht heute. Der Vater reißt ihn aus seinen Gedanken.

      »Sag mal, was hältst du denn so von den Kommunisten? Haben die schon mal versucht, dich von ihren abstrusen Vorstellungen zu überzeugen?«

      Herbert verschluckt sich an seinem heißen Kaffee.

      »Jetzt reicht es aber mit den Diskussionen!« Zum Glück schaltet Klara sich ein. »Wie werden wir den Tag denn nun verbringen? Was haltet ihr davon, in den Zoo zu gehen, da kann man sich so schön entspannen und bekommt noch jede Menge zu sehen.«

      Herbert lächelt seiner Tante dankbar zu.

      »Sag mal, Herbert, wie verbringst du eigentlich deine Freizeit?« Eddy holt seine Bonbondose aus der Hosentasche und bietet seinem Sohn ein Lutschbonbon an. »Ich hoffe, du bleibst standhaft. Wer zu etwas Höherem auserkoren ist, so wie du es bist, und daran lasse ich keinen Zweifel aufkommen, der hat ein großartiges, gottgefälliges Leben vor sich und sollte voller Dankbarkeit niederknien und dem Herrn jederzeit zuhören und ihm folgen.« Sein Vater ist in seinem Redeschwall oft nicht zu stoppen, genau wie seine Schwester, was er natürlich weit von sich weisen würde. »Was ich sagen will, ist: Es gibt genug junge Frauen, die einem gestandenen Mann den Kopf verdrehen wollen. Heutzutage haben die ja schon merkwürdige Ideen. Die neueste Mode scheint auf einmal die Selbstbestimmung zu sein. Berufstätig sind sie, einige studieren sogar.« Er glaubt, ihn vor Protestanten, Nudisten, Juden, Frauen, sollten diese nicht als Nonnen ihr Leben verbringen wollen, Alkoholikern, Freidenkern, Gewerkschaftlern, Spiritisten, aber auch Bruderschaften warnen zu müssen. »Auf einer Litfaßsäule habe ich eine Plakatwerbung gesehen und dort rauchte ein blonder ›Vamp‹, so sagt man doch wohl.« Klara beginnt, den Frühstückstisch abzuräumen. »Damit nicht genug, ich will gerade die Straße überqueren, da hupt eine Frau mit ganz kurzen Haaren im Automobil, sodass ich zur Seite springen musste. Ganz ehrlich, so etwas Verrücktes hat die Welt noch nicht gesehen.« Der Vater ist empört und schaut Herbert tief in die Augen: »Also, was sagst du dazu?«

      »Ach Vati! Worüber du dir Gedanken machst?« Herbert sucht nach Auswegen, sucht nach Wörtern. »Neben meinem Studium und der Arbeit im Antiquariat bleibt mir doch gar keine Zeit für Frauen ...« Er muss noch mehr auf die Frauen eingehen. »Die Damen hier in Berlin sind halt so ... Bei der holden Weiblichkeit bleibe ich standhaft ... bisher hat mich noch keine rumkriegen können und das wird auch so bleiben.«

      »Gehst du denn auch regelmäßig in die Kirche? Du weißt, wie wichtig das ist, um ein ehrfürchtiges christliches Leben zu führen. Ich will doch nur das Beste für dich.«

      Herbert fühlt sich wie in einer Klosterzelle, deren Wände bedrohlich auf ihn zu kommen. Der Vater mit seinen gestrigen Ansichten lässt ihn wütend werden.

      »Vati, ich bin nicht so ... so, wie du mich haben willst!« Bevor Herbert sich versieht, ist der Satz schon aus ihm heraus, er könnte sich auf die Zunge beißen. Dieses Mal hat er sich aus der Reserve locken lassen. Herbert atmet tief durch, sieht Klara an, sieht in ihrem besorgten Gesicht ihre Befürchtungen, dass er und sein Vater heute aneinandergeraten werden. Herbert hört sie sagen: »Also, seid ihr so weit? Die Sonne scheint, wir werden uns einen schönen Tag machen.«

      »Was willst du mir sagen, Herbert? Raus mit der Sprache! Du weißt, ich bin tolerant.«

      Das Wort »tolerant« hat Herberts Vater mit ekelverzerrtem Gesicht ausgespuckt. Tausend Speichelbläschen haben dieses Wort begleitet, treffen Herberts Gesicht. Er friert, eisig ist die Stimmung in dem behaglich eingerichteten Esszimmer. Aber dann steigt eine unglaubliche Hitze in ihm auf und löst den Gefrierzustand ab. Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Was kann er tun, wie seinen Vater beruhigen und ihn auf andere Gedanken bringen, wissend, dass er nicht über sich und Aaron sprechen kann und dass für ihn nur das Studium der Zeitungswissenschaft infrage kommt? Wie soll er mit seinem Vater über seine politischen Überzeugungen reden?

      Herberts Vater steht auf, sein Gesicht ist puterrot. Er presst die Hände zusammen, es scheint, als kämpfe er mit sich selbst. Explodieren oder implodieren steht zur Wahl, ist es zu verhindern? Herberts Vater bleibt unbewegt, seine Arme hängen inzwischen an ihm hinab, alles, was er sich für seinen Sohn erträumt hat, ist in wenigen Minuten weggebrochen. Herbert schaut seinem Vater ins schmerzverzerrte Gesicht. Dieses Gesicht wandelt sich zu einem glatten Antlitz, auf welchem man auszurutschen droht, sobald man sich dieser Fläche ausliefert. Vorsicht ist geboten.

      »Herbert, ich glaube, wir müssen uns mal aussprechen, und zwar in aller Ruhe. Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.«

      Geflüstertes Heucheln zwingt zum genauen Hinhören. Nicht einmal der Hund wagt mehr zu bellen.

      »Vati, nein, es ist alles in Ordnung, das ... das ist mir nur so rausgerutscht, ehrlich.«

      »Herbert, bitte mach mich nicht wütend. Dein Studium ist nicht so selbstverständlich, wie du glaubst. Nur weil ich weit weg auf dem Dorf lebe, kannst du mich nicht hinters Licht führen. Ich bin kein Dorftrottel.«

      Herbert ist sich seiner Abhängigkeit mehr als bewusst. Der monatliche Scheck erlaubt es ihm, nur ein paar Stunden in der Woche zu arbeiten, sodass genug Zeit für das Studium, für die Schauspielgruppe, und seit Neuestem, für Aaron und dessen verrückte Eskapaden bleibt. Herbert wird von verzerrten Bildern umnebelt, Aaron, der schönste Mann, der ihm je begegnet ist und der sich ausgerechnet für ihn interessiert, sein Lachen, sein Selbstbewusstsein. Valentin, Regisseur der Theatergruppe, Kommunist ohne Wenn und Aber, ein Vorbild, streng und doch gerecht. Seine Professoren, die Vorlesungen, das Wissen, dass jede Staatsform unbestechliche Reporter braucht, die sich nicht beirren lassen und sich nur der Wahrheit verpflichtet fühlen. Herbert fühlt sich umarmt, wie viel Liebe, Zuneigung, Interesse wird ihm entgegengebracht. Eine innere Ruhe erwächst auf einmal aus ihm heraus.

      »Vati.« Er sucht nach den richtigen Worten, ist sich darüber im Klaren, dass er viel verliert, wenn er sich für die Wahrheit entscheidet. Wie wäre es mit ein bisschen Wahrheit? Seine Augen finden sich in denen von Tante Klara wieder, die ihm sagen, dass er hierbleiben kann, was auch geschieht.

      »Ich studiere Zeitungswissenschaften. Es tut mir leid, aber ich habe gespürt, dass mein Interesse für etwas ganz Neues gewachsen ist. Als Reporter kann ich die neue Sache mit vorantreiben. Kommunisten kämpfen für eine große Veränderung in der Gesellschaft. Menschen hungern, sind arbeitslos, werden von Vermietern auf die Straße gesetzt. Glaubst du, da kann ich mein Leben demütig Gott widmen, meine Augen verschließen vor all der Not?« Bleib ruhig, ruft sich Herbert zur Ordnung, seine Stimme zittert, sein scheinbares Selbstbewusstsein ist ihm kurzzeitig abhandengekommen, muss noch mal hervorgekramt werden. »Wenn es losgeht, bin ich ganz vorne mit dabei!« Herbert hat sein Ideal herausgeschrien, mit kräftiger Stimme. Sein Herz rast, aber sein Kopf ist wie befreit. Jedes Wort, das seinem Mund entsprungen ist, ist wahr. Es sollte reichen, mehr will er nicht erzählen, nichts von seiner großen Liebe.

      Eddy hört und will es nicht glauben, sieht dabei in das entschlossene Gesicht seines Sohnes, beinahe zwanzig Jahre laufen vor seinen inneren Augen ab. Er allein hat ihn aufgezogen, gegen alle Widrigkeiten. Er will es nicht und dennoch rutscht ihm die Hand aus. »Herbert verzeih«, will er sagen, doch die Worte bleiben im Hals stecken. Erschrocken zieht er die Hand zurück, die auf der Wange seines Jungen einen Abdruck hinterlässt hat.

      Herbert hat nicht mit der Ohrfeige gerechnet. Sein Vater hatte ihn doch nie zuvor geschlagen. »Vati, es war dein Traum, den ich dir erfüllen sollte ... ich kann das nicht, es tut mir leid.«

      Sie