Die Zeit ohne uns. Rupert van Gerven. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rupert van Gerven
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957712776
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dass sich bisher noch nie einer der Nachbarn beschwert hat – Tante Klara ist wie immer zu warm angezogen, hängt ihren gefütterten Sommermantel auf, streift die Schnürschuhe von den Füßen. Sie hat Schrippen gekauft, wie jeden Sonntag, und setzt schon den Wasserkessel auf den Herd.

      Zehn Minuten später sitzen die beiden am reichlich gedeckten Frühstückstisch, Herbert halbnackt. Noch immer kläfft der Hund. Tante Klara redet ununterbrochen. Sie steht auf, öffnet das Fenster, um Luft herein zu lassen, setzt sich, kleckst Marmelade auf ihre Schrippe, steht auf, dreht den Gasherd auf, stellt eine Pfanne darauf. Herbert braucht gar nicht zu erwähnen, dass sie dieses Mal kein Rührei für ihn bereiten muss. Sie kommt zurück zum Tisch, nimmt einen Schluck vom Kaffee, wendet sich gut gelaunt wieder dem Ei zu. Herbert rührt mit dem Löffel in seinem Kaffee, der Hund nervt ihn. Das Rührei wird auf seinen Teller gekippt. Zwei Eier, geschätzte 100 Gramm Butter, kein Wunder, dass ihm jeden Sonntagmorgen der Appetit vergeht. Sein Vater wird heute erscheinen, dieser Tag verspricht nichts Gutes. Tötungsarten für den Köter gehen ihm durch den Kopf, er würde human vorgehen, so ein Hund ist auch ein Lebewesen. Man könnte ihn sich überfressen lassen, bis er platzt – Herbert grinst.

      »Nichts geht über einen gemütlichen Sonntagmorgen ...«, Klara, wieder am Tisch sitzend, »nicht wahr, mein Lieber?«. Herzhaft beißt sie ein weiteres Mal in ihre Schrippe. »Und, freust du dich, deinen Vater heute zu sehen?« Tante Klaras Gesicht strahlt, im Moment kann ihr keiner den Tag madigmachen. »Wie wollen wir den Tag verbringen? Hast du dir etwas überlegt? Natürlich gibt es am Abend Spargel, ausgelassene Butter ... oder lieber Sauce Hollandaise? Das wird ein Fest, nee wirklich, ich freu mich so!«

      »Tantchen ... vielleicht können wir in den Botanischen Garten gehen. Mir reicht Butter auf dem Spargel, aber Vati will auch gefragt werden, wir werden nicht einfach über seinen Kopf hinweg entscheiden können. Du weißt ja, wie er am liebsten bequem auf dem Sofa sitzt und nichts weiter tut, als seine Bibel zu studieren.«

      »Ach ja, der Eddy war schon immer ein bisschen sonderbar, immer saß er auf der Ofenbank, mit der Nase in der Bibel vertieft hat er die Welt um sich herum vergessen, während wir über die Felder liefen, die Äpfel von dem Bäumen pflückten, im See schwimmen gelernt haben. Und das Unterrichten an der Dorfschule, das kann doch einen Mann nicht ausfüllen, aus seinen Schülern kann sowieso nichts Vernünftiges werden ... Ich frage mich, warum er nicht zu uns nach Berlin gekommen ist? Ich habe das doch auch getan, und sieh, was aus mir geworden ist.«

      Herbert enthält sich eines Kommentars, beißt in seine dick mit Butter und Marmelade bestrichene Schrippe. Tante Klara holt groß aus und niemand hält sie auf.

      »Als deine Mutter gestorben war, boten wir ihm an, mit dir hier in Berlin zu leben, vorerst hätte ich mich um dich gekümmert, arbeiten brauchte ich ja nie, so wie es die Arbeiterfrauen müssen oder die jungen Frauen es auf einmal wollen. Frau Martern hat mir erzählt, dass ihre Nichte sogar Architektur studiert. Zeiten sind das heutzutage! Gott sei Dank hat der Gustav immer gut verdient.« Sie schaut sich im Esszimmer um, es scheint, als wolle sie den soeben ausgesprochenen Satz noch nachklingen hören. »Dein Vater hätte die Chance ergreifen sollen, hier ein neues Leben mit dir zu beginnen. Dein verstorbener Onkel kannte einflussreiche, wichtige Leute, er wäre als Fürsprecher aufgetreten, was meinst du, was alles möglich ist, wenn man Menschen kennt, aber der Eddy wollte ja unbedingt in diesem Nest bleiben. Ich glaube, für dich wäre es erst recht gut gewesen, bei einer liebenden Mutter aufzuwachsen. Wir hätten es uns gut gehen lassen, nicht wahr?«

      »Du bist meine Tante.«

      »Ach, du weißt doch, was ich meine. Ich denke oft daran zurück, wir besuchten euch, natürlich gab es nur trockenen Kuchen, von einer alten, kurzsichtigen, dicken Landfrau gebacken, der ständig die Nase lief. Wer weiß, was die alles in den Teig getan hat. Ich hab dich immer in meine Arme schließen müssen, du wolltest gar nicht, dass ich dich wieder loslasse.«

      »Tatsächlich? Daran kann ich mich nicht erinnern.«

      »Wirklich nicht? Und dann dieser Kirchenkram! Nein, mein Junge. Heiligabend, Ostern, Pfingsten, na gut, aber doch nicht jeden Sonntag in die Kirche latschen. In meinen Augen kann so etwas nur schädlich sein.«

      »Ich hatte auch meine guten Zeiten in der Kirchengemeinde. Ich habe noch immer den Weihrauchgeruch in der Nase. Und du musst zugeben, die Katholiken halten einen ehrfürchtigen Gottesdienst. Nur glauben konnte ich ihnen irgendwann nicht mehr.« Herberts Gesicht scheint Erinnerungen wahrzunehmen.

      »Dein Vater hat ein Recht, zu erfahren, wie es um dein Studium steht. Also, wirst du ihm reinen Wein einschenken?« Klara mustert ihn streng über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.

      »Tantchen, das geht nicht, es ist zu früh. Vati wird mich enterben!«

      »Wenn das alles ist, dann hast du ja nichts zu befürchten.«

      Es hat geläutet.

      Klara und Herbert sind überrascht, erheben sich. Der Hund hört endlich auf, nach der Wurst vom Tisch zu betteln. Die Beamtenwitwe schaut noch mal schnell in den Garderobenspiegel, bevor sie die Wohnungstür öffnet. Klaras Bruder betritt den Flur.

      »War das eine Bahnfahrt, du glaubst gar nicht, wer sich alles auf den Weg in die Hauptstadt macht. Nun ja, wo ist mein Sohn?«

      Klara hält ihrem Bruder die Wange hin.

      »Vielleicht begrüßt du mich erst einmal, bevor du die Wohnung stürmst ... bist früh dran ... immerhin verpasst du doch sonst nie deinen Gottesdienst ...?« Sie flüstert ihm ans Ohr: »Er ist im Esszimmer ... beim Frühstück«, und dann wieder lauter, »zieh erst mal den Mantel aus ...«

      »Nun...«, Eddy kommt Klaras Wunsch nach, hängt sein Mantel auf, dreht sich zu ihr um, »gestern war ich noch in der Dorfschule, heute Morgen im Gebet zu meinem Gott versunken ... du siehst, es ist alles im Lot«, dennoch straft er seine Schwester mit dem üblichen herablassenden Blick, sobald er sich auf den Arm genommen fühlt. Welten prallen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die resolute, praktisch denkende und handelnde Klara und Eddy, der schnell überforderte Dorfschullehrer, der an seinen unumstößlichen christlichen Werten festhält.

      Die beiden laufen in die Küche, wo Herbert und sein Vater sich mit einer Umarmung begrüßen.

      »Eddy, setz dich. Wir haben noch gar keine richtigen Pläne für den heutigen Tag geschmiedet, dein Sohn hat den Botanischen Garten vorgeschlagen, aber jetzt gibt es erst mal frischen Kaffee.«

      »Junge, erzähl doch mal, wie es dir so ergangen ist. Ich weiß so wenig von dir.«

      »Ach Vati, da gibt es nicht viel zu erzählen, immer das Gleiche.«

      »Dass ich nicht lache: ›immer das Gleiche!‹. Und warum kommst du dann mitten in der Nacht nach Hause?«, fällt Klara in das Gespräch ein.

      »Tantchen, du übertreibst ... ich konnte nicht schlafen und da bin ich halt noch mal runter.« Herbert ertappt sich dabei, dass er zu laut und zu aufgeregt reagiert. »Wie geht’s denn so in Hohenfinow?« Er muss das Thema wechseln: »Ist die Trude vom Hagener Hof immer noch scharf auf dich?«

      »Herbert, mäßige dich, oder habe ich dich so erzogen?« Ein Vater-Satz, den Herbert immer wieder vor die Füße geworfen bekommt. »Also wirklich ... nach dem Tod deiner Mutter war jede Frau für mich tabu. Deine Wortwahl gibt mir eh zu denken.«

      »Soso, und bevor sie das Zeitliche segnete, da warst du wohl kein Kind von Traurigkeit?« Die Schwester grinst.

      »Klara, wie kannst du nur? Manchmal frage ich mich, ob Berlin für euch der richtige Ort ist. Nicht mal gedacht habe ich an andere Frauen.«

      Klara schenkt Kaffee ein und setzt sich zu den Männern.

      »Herbert, also?« Der Vater lässt nicht nach.

      Herbert weiß, dass er früher oder später Farbe bekennen muss: »Die Arbeit im Antiquariat macht viel Spaß, ich komme mit vielen Menschen in Kontakt, so etwas kann man ja immer gebrauchen. Natürlich berate ich jeden Kunden individuell, es gibt oft anregende Gespräche, unsere Kundschaft ist sehr gebildet. Und weit fahren muss ich da auch nicht, ich kann dir den