»Ich weiß nicht, ob Sie uns zum Narren halten wollen, Mr. Sherlock Holmes«, sagte er. »Wenn Sie etwas wissen, können Sie es uns auch ohne diese Possen sagen.«
»Ich versichere Ihnen, mein guter Lestrade, ich habe für alles, was ich tue, einen triftigen Grund. Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie mich vor ein paar Stunden, als die Sonne auf Ihrer Seite der Hecke zu stehen schien, ein wenig aufgezogen haben, und Sie dürfen mir daher mein bißchen Pomp und Feierlichkeit jetzt nicht mißgönnen. Darf ich Sie bitten, Watson, dieses Fenster zu öffnen und dann ein Streichholz an den Rand des Strohs zu halten?«
Nachdem ich dies getan, wirbelte, vom Luftzug angezogen, eine graue Rauchfahne durch den Korridor, indes das trockene Stroh knisterte und züngelte.
»Nun wollen wir sehen, ob wir diesen Zeugen für Sie auftreiben können, Lestrade. Dürfte ich Sie alle bitten, mit mir in den Ruf ›Feuer!‹ einzustimmen? Nun denn: eins, zwei, drei –«
»Feuer!« schrien wir im Chor.
»Ich danke Ihnen. Darf ich Sie noch einmal bemühen?«
»Feuer!«
»Nur noch einmal, Gentlemen; und alle zusammen.«
»Feuer!« Der Schrei muß in ganz Norwood zu hören gewesen sein.
Kaum war er verklungen, geschah etwas Erstaunliches. Plötzlich flog in der scheinbar massiven Mauer am Ende des Flurs eine Tür auf, und ein kleiner verhutzelter Mann kam wie ein Kaninchen aus seinem Bau daraus hervorgeschossen.
»Großartig!« sagte Holmes ruhig. »Watson, einen Eimer Wasser über das Stroh. Das reicht! Lestrade, gestatten Sie mir, Ihnen den wichtigsten fehlenden Zeugen vorzustellen: Mr. Jonas Oldacre.«
Der Inspektor begaffte den Neuankömmling in fassungsloser Verblüffung. Letzterer blinzelte im hellen Licht des Korridors und starrte erst uns, dann das schwelende Feuer an. Er hatte ein abstoßendes Gesicht – verschlagen, boshaft, hämisch, mit verstohlenen hellgrauen Augen und weißen Wimpern.
»Was soll denn das?« sagte Lestrade schließlich. »Was hatten Sie denn dort die ganze Zeit zu suchen, he?«
Oldacre lachte beklommen und wich vor dem zornesroten Gesicht des wütenden Inspektors zurück.
»Ich habe nichts Böses getan.«
»Nichts Böses? Sie haben Ihr Bestes getan, einen unschuldigen Mann an den Galgen zu bringen. Ohne diesen Gentleman hier wäre es Ihnen womöglich sogar gelungen.«
Der Elende begann zu winseln.
»Aber Sir, ich wollte doch bloß einen Streich spielen.«
»Oho! Einen Streich, ja? Sie werden die Lacher nicht auf Ihrer Seite finden, das verspreche ich Ihnen! Bringen Sie ihn hinunter und verwahren ihn im Salon, bis ich komme. Mr. Holmes«, fuhr er fort, als sie gegangen waren, »ich konnte vor den Beamten nicht sprechen, aber ich stehe nicht an, Ihnen im Beisein von Dr. Watson zu sagen, daß dies das Glorreichste ist, was Sie je vollbracht haben, obwohl es mir ein Rätsel ist, wie Sie darauf gekommen sind. Sie haben einem Unschuldigen das Leben gerettet, und Sie haben einen sehr ernsten Skandal, der meinen Ruf bei der Polizei ruiniert hätte, verhindert.«
Holmes lächelte und klopfte Lestrade auf die Schulter.
»Mein guter Sir, Sie werden finden, daß Ihr Ruf nicht ruiniert, sondern enorm gefestigt worden ist. Ändern Sie nur ein weniges an dem Bericht, den Sie bereits geschrieben haben, und man wird begreifen, wie schwer es ist, Inspektor Lestrade Sand in die Augen zu streuen.«
»Und Sie wollen nicht, daß Ihr Name darin erscheint?«
»Ganz und gar nicht. Die Mühe belohnt sich durch sich selbst. Vielleicht werde ich eines fernen Tages einmal die Ehre einheimsen, wenn ich meinem eifrigen Historiographen gestatte, wieder sein Kanzleipapier auszubreiten – was, Watson? Tja, nun wollen wir uns doch einmal anschauen, wo diese Ratte gelauert hat.«
Sechs Fuß von der Außenmauer war quer durch den Flur eine vergipste Holzwand gezogen, in der geschickt eine Tür verborgen war. Der Verschlag bekam durch einige Ritzen im Dach Licht. Es befanden sich ein paar Möbelstücke darin und ein Vorrat an Lebensmitteln und Wasser sowie eine Anzahl Bücher und Zeitungen.
»Das ist der Vorteil, wenn man Baumeister ist«, sagte Holmes, als wir wieder hinaustraten. »Er konnte sich sein kleines Versteck ohne jeden Mitwisser einrichten – abgesehen natürlich von jener teuren Haushälterin, die ich anrate, unverzüglich Ihrer Beute hinzuzufügen, Lestrade.«
»Ich werde Ihren Rat befolgen. Aber woher wußten Sie von diesem Versteck, Mr. Holmes?«
»Ich kam zu der Überzeugung, daß der Bursche sich im Haus verborgen hielt. Nachdem ich einen Flur abgeschritten hatte und ihn sechs Fuß kürzer als den entsprechenden darunterliegenden gefunden hatte, war mir ziemlich klar, wo er steckte. Ich dachte mir, er würde nicht die Nerven haben, bei einem Feueralarm ruhig drinnen zu bleiben. Wir hätten natürlich hineingehen und ihn festnehmen können, aber es machte mir Spaß, ihn sich selbst bloßstellen zu lassen; im übrigen war ich Ihnen für Ihr Geplänkel von heute morgen noch eine kleine Fopperei schuldig.«
»Nun, Sir, Sie haben zweifellos mit mir gleichgezogen. Doch woher um alles in der Welt wußten Sie, daß er sich überhaupt im Haus aufhielt?«
»Der Daumenabdruck, Lestrade. Sie sagten, dies sei endgültig; und das war es auch, freilich in einem anderen Sinn. Ich wußte, daß er gestern noch nicht da war. Ich widme den Details eine Menge Aufmerksamkeit, wie Sie vielleicht bemerkt haben, und ich hatte die Vorhalle untersucht und war mir sicher, daß die Wand frei gewesen war. Er mußte daher in der Nacht angebracht worden sein.«
»Aber wie?«
»Ganz einfach. Als jene Päckchen versiegelt wurden, ließ Jonas Oldacre McFarlane eines der Siegel festmachen, indem er seinen Daumen in den weichen Lack drücken sollte. Dies dürfte so schnell und so natürlich vor sich gegangen sein, daß ich behaupten möchte, der junge Mann selbst hat keine Erinnerung mehr daran. Höchstwahrscheinlich geschah es genau so, und Oldacre hatte selber noch keine Ahnung, was er damit anfangen würde. Als er dann in seinem Versteck über die Sache nachdachte, kam ihm plötzlich die Idee, was für einen absolut vernichtenden Beweis gegen McFarlane er mittels dieses Daumenabdrucks herstellen könnte. Nichts leichter für ihn, als einen Wachsabdruck von dem Siegel zu nehmen, ihn mit so viel Blut, wie ein Nadelstich hergeben mochte, anzufeuchten und im Lauf der Nacht den Abdruck an der Wand anzubringen – entweder höchstpersönlich oder mit Hilfe seiner Haushälterin. Wenn Sie die Dokumente durchsuchen, die er in seinen Bau mitgenommen hat, wette ich mit Ihnen, Sie werden darunter das Siegel mit dem Daumenabdruck finden.«
»Wunderbar!« sagte Lestrade. »Wunderbar! Wie Sie es darlegen, ist alles klar wie Kristall. Doch was ist das Motiv für diesen hinterhältigen Betrug, Mr. Holmes?«
Es amüsierte mich, zu sehen, wie das anmaßende Gehabe des Inspektors plötzlich in das eines Kindes umgeschlagen war, das seinem Lehrer Fragen stellt.
»Nun, ich denke nicht, daß dies sehr schwer zu erklären ist. Der Gentleman, der uns jetzt dort unten erwartet, ist ein überaus raffinierter, bösartiger und rachsüchtiger Mensch. Sie wissen doch, daß er früher einmal von McFarlanes Mutter abgewiesen wurde? Nicht?! Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten als erstes nach Blackheath und dann erst nach Norwood gehen. Nun, diese Beleidigung, wie er es auffaßte, schwärte in seinem bösen hinterlistigen Hirn, und sein ganzes Leben lang sann er auf Rache, sah aber nie eine Möglichkeit dazu. In den letzten ein oder zwei Jahren lief es mit seinen Geschäften ungünstig – heimliche Spekulationen, nehme ich an –, und er befindet sich in übler Lage. Er beschließt, seine Gläubiger zu hintergehen, und zahlt zu diesem Behuf hohe Schecks an einen gewissen Mr. Cornelius, der, denke ich mir, niemand anders ist als er selbst. Ich bin diesen Schecks noch nicht nachgegangen, doch zweifle ich nicht daran, daß Oldacre sie bei irgendeiner Provinzbank, wo er von Zeit zu Zeit ein Doppelleben führte, unter diesem Namen eingezahlt hat. Er beabsichtigte, seinen Namen ganz und gar zu ändern, dieses Geld abzuheben, zu verschwinden und woanders ein neues Leben zu beginnen.«
»Nun,