»Was den Stock betrifft, Mr. Holmes, so wissen Sie so gut wie ich, daß ein Verbrecher oft nervös ist und Dinge tut, die ein besonnener Mensch unterlassen würde. Sehr wahrscheinlich hatte er Angst, in das Zimmer zurückzugehen. Geben Sie mir eine andere Theorie, die besser den Tatsachen entspricht.«
»Ich könnte Ihnen sehr leicht ein halbes Dutzend geben«, sagte Holmes. »Hier habe ich zum Beispiel eine sehr denkbare und sogar wahrscheinliche. Ich will sie Ihnen schenken. Der ältere Mann fuhrt Dokumente vor, die offensichtlich wertvoll sind. Ein vorbeikommender Landstreicher sieht sie durch die Verandatür deren Jalousie nur halb herabgezogen ist. Anwalt ab. Der Landstreicher tritt auf! Er packt einen Stock, den er dort liegen sieht, tötet Oldacre, und läuft davon, nachdem er die Leiche verbrannt hat.«
»Warum sollte der Landstreicher die Leiche verbrennen?«
»Was das betrifft: warum sollte McFarlane?«
»Um Beweismaterial zu beseitigen.«
»Der Landstreicher wollte womöglich verbergen, daß überhaupt ein Mord stattgefunden hatte.«
»Und warum hat er dann nichts mitgehen lassen?«
»Weil es sich um Papiere handelte, die er nicht veräußern konnte.«
Lestrade schüttelte den Kopf, obwohl mir schien, er sei sich nicht mehr so absolut sicher wie vorhin.
»Nun, Mr. Holmes, Sie mögen Ihren Landstreicher suchen, und solange Sie ihn aufspüren, werden wir uns an unseren Mann halten. Die Zukunft wird erweisen, wer von uns recht hat. Beachten Sie nur dies, Mr. Holmes: Soweit wir wissen, wurde keines der Papiere entfernt, und der Gefangene ist der einzige Mensch auf der Welt, der keinen Grund hatte, sie zu entfernen, da er ihr rechtmäßiger Erbe war und in jedem Fall in ihren Besitz gelangt wäre.«
Diese Bemerkung schien meinen Freund betroffen zu machen.
»Ich möchte ja gar nicht abstreiten, daß die Beweise in mancher Hinsicht sehr stark für Ihre Theorie sprechen«, sagte er. »Ich will nur darauf hinweisen, daß es auch andere mögliche Theorien gibt. Wie Sie sagen, die Zukunft wird es zeigen. Guten Morgen! Ich stehe dafür, daß ich im Lauf des Tages in Norwood auftauchen und nachsehen werde, wie Sie weiterkommen.«
Als der Kriminalbeamte gegangen war, stand mein Freund auf und bereitete sich mit der Munterkeit eines Mannes, der eine erfreuliche Aufgabe vor sich hat, aufsein Tagewerk vor.
»Als erstes, Watson«, sagte er, während er sich in seinen Gehrock warf, »muß ich mich, wie gesagt, in Richtung Blackheath bewegen.«
»Und warum nicht Norwood?«
»Weil in diesem Fall ein merkwürdiger Umstand eng mit einem anderen merkwürdigen Umstand zusammenhängt. Die Polizei begeht den Fehler, ihre Aufmerksamkeit auf den zweiten zu konzentrieren, da dies zufällig der wirklich kriminelle von den beiden ist. Für mich besteht jedoch unstreitig der logische Weg, diesen Fall anzugehen, darin, zunächst einmal zu versuchen, ein wenig Licht in den ersten Umstand zu bringen – das seltsame, so plötzlich und einem so unvermuteten Erben gemachte Testament. Das mag die folgenden Ereignisse ein wenig durchschaubarer machen. Nein, mein Lieber, ich glaube nicht, daß Sie mir helfen können. Gefahr ist nicht zu erwarten, sonst würde ich nicht im Traum daran denken, ohne Sie loszuziehen. Ich hoffe, Ihnen heute abend berichten zu können, daß ich in der Lage war, etwas für diesen unglücklichen Jüngling zu tun, der sich unter meinen Schutz gestellt hat.«
Es war schon spät, als mein Freund zurückkam, und ein Blick in sein abgespanntes und besorgtes Gesicht sagte mir, daß sich die hohen Erwartungen, mit denen er aufgebrochen war, nicht erfüllt hatten. Eine Stunde lang brummte er auf seiner Geige herum, um seine aufgewühlte Stimmung zu beruhigen. Endlich warf er das Instrument hin und stürzte sich in einen ausführlichen Bericht seiner Mißgeschicke.
»Es geht alles schief, Watson – so schief, wie es nur gehen kann. Lestrade gegenüber blieb ich kühn genug, aber ich glaube wahrhaftig, diesmal ist der Bursche auf der richtigen Spur, und wir sind auf der falschen. Alle meine Ahnungen gehen in eine Richtung, und alle Tatsachen gehen in die andere; und ich fürchte sehr, die britischen Geschworenen haben jene Höhe der Intelligenz noch nicht erreicht, die sie meinen Theorien den Vorzug vor Lestrades Tatsachen geben lassen würde.«
»Waren Sie in Blackheath?«
»Ja, Watson, ich war dort, und ich fand sehr schnell heraus, daß der selige Oldacre ein ganz beträchtlicher Lump gewesen sein muß. McFarlanes Vater war unterwegs auf der Suche nach seinem Sohn. Die Mutter war zu Hause – eine kleine, schlappe, blauäugige Person, die vor Angst und Entrüstung bebte. Sie wollte natürlich nicht einmal die Möglichkeit seiner Schuld zugeben. Ebensowenig drückte sie jedoch Überraschung oder Bedauern über das Schicksal Oldacres aus. Im Gegenteil, sie sprach von ihm mit solcher Bitterkeit, daß sie die Sache für die Polizei unbewußt noch erheblich klarer machte; denn wenn ihr Sohn sie so von diesem Manne hatte reden hören, würde ihn dies natürlich für Haß und Gewalttat prädisponieren. ›Er war eher ein bösartiger und verschlagener Affe als ein Mensch‹, sagte sie, ›das war er schon immer, seit seiner Jugend.‹
›Sie kannten ihn seit damals?‹ fragte ich.
›Ja, ich kannte ihn gut; tatsächlich hat er früher einmal um mich geworben. Dem Himmel sei Dank, daß ich so klug war, mich von ihm abzuwenden und einen besseren, wenn auch ärmeren Mann zu heiraten. Ich war bereits mit ihm verlobt, Mr. Holmes, als ich von einer schrecklichen Geschichte erfuhr, wie er in einem Vogelhaus eine Katze freigelassen hatte, und da grauste es mir so vor seiner brutalen Grausamkeit, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.‹ Sie durchstöberte ein Schreibpult und zog dann eine böswillig mit einem Messer entstellte und verstümmelte Photographie einer Frau hervor. ›Dies ist ein Bild von mir‹, sagte sie. ›Er schickte es mir an meinem Hochzeitstag in diesem Zustand und mit seinem Fluch.‹
›Nun‹, sagte ich, ›immerhin hat er Ihnen jetzt vergeben, hat er doch sein ganzes Vermögen Ihrem Sohn vermacht.‹
›Weder mein Sohn noch ich selbst will irgend etwas von Jonas Oldacre geschenkt haben, sei er tot oder lebendig‹, rief sie temperamentvoll aus. ›So wahr ein Gott im Himmel ist, Mr. Holmes, und so wahr dieser Gott diesen bösen Mann bestraft hat, so wahr wird er auch, wenn es ihn gutdünkt, erweisen, daß die Hände meines Sohnes schuldlos an seinem Blute sind.‹
Nun, ich folgte noch einigen Hinweisen, geriet aber auf nichts, was unsere Hypothese stützen wollte, sondern nur auf manches, was dagegen sprach. Endlich gab ich es auf und verfügte mich nach Norwood.
Das Deep Dene House ist eine große moderne Villa aus knallroten Backsteinen und steht hinten auf dem Grundstück; davor befindet sich ein Rasen mit Lorbeersträuchern. Ein Stück weg von der Straße liegt zur Rechten das Holzlager, wo der Brand stattgefunden hatte. Auf diesem Notizbuchblatt hier ist ein grober Lageplan. Das Fenster links ist dasjenige, das in Oldacres Zimmer führt. Wie Sie sehen, kann man von der Straße aus hineinblicken. Dies ist so ziemlich der einzige Trost, der mir heute zuteil wurde. Lestrade war nicht da, doch gab sich sein Oberpolizist die Ehre. Man hatte soeben einen großen Schatz gefunden. Nachdem man den Morgen damit verbracht hatte, in der Asche des abgebrannten Holzstapels herumzuwühlen, hatte man neben den verkohlten organischen Überresten mehrere verfärbte Metallscheibchen sichergestellt. Ich untersuchte sie sorgfältig, und es stellte sich zweifelsfrei heraus, daß es sich um Hosenknöpfe handelte. Ich erkannte sogar, daß einer davon mit ›Hyams‹, dem Namen von Oldacres Schneider, gezeichnet war.