Der schwierige Teil besteht darin, diese Veränderung auch im Kontext von Gruppen und Organisationen zu bewirken, wenn es wirklich darauf ankommt, weil sie vor großen Herausforderungen stehen. Wie können wir als Gruppe unser Aufmerksamkeitsfeld so verändern, dass wir uns mit unserem höchsten Zukunftspotenzial verbinden anstatt weiterhin Handlungsmuster der Vergangenheit zu reinszenieren? Die praktische Frage ist, wie dieser Wechsel stattfinden kann, ohne dass das Haus jeden Tag abbrennen muss. Das war die Fragestellung, die mich 1994 an das MIT Organizational Learning Center (Zentrum für organisationales Lernen am Massachusetts Institute of Technology) brachte.
Als ich im Herbst 1994 in Boston ankam, war ich gerade im Bereich Wirtschaftswissenschaften promoviert worden. Meine Doktorarbeit (Scharmer 1996) trug den ziemlich komplexen Titel Reflexive Modernisierung des Kapitalismus als Revolution von innen und fand daher nicht sehr viele Leser. Darin versuchte ich zu argumentieren, unsere Gesellschaft müsse die Fähigkeit erlernen, institutionsübergreifend zu lernen und sich zu erneuern.
In wesentlichen Bereichen unserer Gesellschaft produzieren wir gemeinsam Ergebnisse, die fast niemand will: Wir haben Schulen, die unsere Kinder oft daran hindern, ihre wirklichen Potenziale zu entfalten, Gesundheitssysteme, die die Symptome von Krankheit bekämpfen, anstatt die Ursachen von Gesundheit zu verstärken, industrielle Produktionssysteme, die nicht nachhaltig sind und statt des Ganzen Subsysteme optimieren, Entscheidungsprozesse in der Politik, die auf organisierte Sonderinteressen reagieren, anstatt den systemischen Gesamtzusammenhang nach vorne zu bringen.
All diesen Beispielen liegt etwas Gemeinsames zugrunde: Wie können wir aktuell brennende Probleme lösen, ohne die dysfunktionalen Muster der Vergangenheit zu wiederholen? Das Erste, was ich nach meiner Ankunft am MIT Organizational Learning Center gelernt habe, war, dass es verschiedene Herangehensweisen dafür gibt, wie Veränderungsprozesse initiiert werden können. Die häufigste Form ist, dass auf eine Krise oder einen offensichtlichen Veränderungsbedarf »reagiert« wird.
Abb. 3.1 beschreibt vier Ebenen von Veränderungsprozessen. Ebene 1 stellt genau dieses »Reagieren« dar. Handlung erfolgt als Reaktion und basiert auf bestehenden Routinen und Gewohnheiten. Ebene 2, Restrukturieren, beschreibt einen Veränderungsprozess, der die zugrunde liegenden Strukturen und Prozesse mit einschließt. Ebene 3, Neuausrichten (Reframing), zielt darauf ab, auch die den Prozessen oder Strukturen zugrunde liegenden Denkmuster zu verändern.
Abb. 3.1: Vier Ebenen von Lernen und Veränderung
Häufig werden die meiste Zeit und die meisten Ressourcen auf den Ebenen 1 und 2 eingesetzt. Abhängig von Kontext und Ziel eines Veränderungsprozesses kann die Konzentration auf die ersten beiden Ebenen sinnvoll sein. Jedoch nicht immer. Laut einer Studie von Strebel (1996) sind etwa 70 Prozent der Projekte des Business Reengineering in den 1990er Jahren gescheitert. Ich sehe einen Grund für dieses Scheitern darin, dass es einen Veränderungsbedarf gibt, der über die Ebenen 1 und 2 hinausgeht und die tieferen Ebenen mit einschließt. Den Beteiligten gelingt es nicht, das Problem zu »reframen«, also neu zu rahmen oder umzudeuten.
Methoden des organisationalen Lernens bieten demgegenüber ein Beispiel für Veränderungsprozesse, die auch die Ebene 3 mit einbeziehen, die Ebene des Neuausrichtens von Annahmen, die einer Situation zugrunde liegen. Beispielsweise schlagen Chris Argyris, Professor in Harvard, und Donald Schön, Professor am MIT, vor, zwischen Single-loop-Lernen und Double-loop-Lernen zu unterscheiden (Kapitel 2). Single-loop-Lernen bedeutet, dass wir unsere Handlungen anpassen. Damit bewegen wir uns auf Ebene 2. Double-loop-Lernen schließt ein Reflektieren unserer tieferen Annahmen und Grundperspektiven ein. Diese Form von Lernen umfasst auch die Ebene 3.
Bislang hat sich organisationales Lernen hauptsächlich darum gedreht, wie Lernprozesse initiiert, verbessert und nachhaltig gemacht werden. Die Lernprozesse basieren auf einer Reflexion zurückliegender Erfahrungen. Die umfangreichen Arbeiten zu diesem Thema bieten Einsichten in das, was notwendig ist, damit Lernprozesse für die Ebenen 2 und 3 aufgebaut werden können.26
Bei meiner Arbeit mit Veränderungsprozessen in unterschiedlichen Organisationen habe ich allerdings beobachtet, dass es Herausforderungen gibt, die nicht durch eine Reflexion von Erfahrungen, also nicht durch eine Reflexion der Vergangenheit beantwortet werden können. Unternehmen kämpfen darum, in einer »VUCA«-Welt erfolgreich zu sein – in einer Welt, die durch Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (»Ambiguity«) gekennzeichnet ist, und Führungskräfte erkennen, dass es nicht ausreicht, einfach über die Vergangenheit nachzudenken, wenn es darum geht, wie sie in Zukunft handeln wollen. Diese Herausforderungen sind komplex und schnelllebig. Will man auf sie eine Antwort finden, ist es notwendig, das in der Situation verborgene Zukunftspotenzial wahrzunehmen und damit auch die Ebene 4 in den Veränderungsprozess mit einzubinden.
Diesen Prozess, von einer im Entstehen begriffenen Zukunft aus zu lernen (Abb. 3.1), habe ich »Presencing« genannt, weil er mit einer bestimmten Art von Aufmerksamkeit und Erfahrung im gegenwärtigen Moment zusammenhängt. Presencing bezeichnet die Fähigkeit einzelner Menschen oder kollektiver Einheiten, sich direkt mit ihrer höchsten zukünftigen Möglichkeit zu verbinden und von dort aus unmittelbar zu handeln. Von einer zukünftigen Möglichkeit her zu handeln heißt, von einer authentischen Präsenz des Augenblicks her zu handeln – aus dem Jetzt.
Interviewprojekt: Was ist der Ausgangspunkt unserer kollektiven Handlung?
Als ich Michael Jung 1994 zum ersten Mal traf, war er Direktor des Büros von McKinsey & Company in Wien und fing gerade an, eine weltweite Forschungsinitiative im Bereich Führung und Organisation zu leiten. Wir trafen uns in München und führten ein faszinierendes Gespräch über die grundlegenden Probleme profunder Innovation und Veränderung. Am Ende des Gesprächs fragte mich Michael Jung, ob ich Interesse hätte, ein globales Interviewprojekt mit den Wissenschaftlern und Praktikern im Bereich Führung, Organisation und Strategie durchzuführen.
»Sämtliche Interviews werden ins Internet gestellt. Du kannst sie für deine Forschung am MIT verwenden, und ich kann sie für meine Arbeit bei McKinsey gebrauchen. Außerdem kann sie sich jeder, der etwas darüber erfahren möchte, von einer Website herunterladen. Wir hoffen, dass die Menschen sie als Anregung für ihre eigene Kreativität und ihr eigenes Denken nutzen werden.«27
War ich interessiert an dieser Aufgabe? Also, erstens klang es für mich wie das absolute Traumprojekt, und zweitens war ich fast pleite, weil ich meine Forschung durch Kredite und Stipendien finanziert hatte und man mir am MIT anfangs nur eine unbezahlte Stelle als Gastdozent angeboten hatte. Folglich war ich sehr interessiert. Nach meiner Rückkehr nach Boston bat ich mehrere Leute um ihren Input und ihre Hilfe, und innerhalb weniger Tage hatten wir eine Liste von Interviewpartnern zusammengestellt, darunter Akademiker, Unternehmer, Erfinder, Wissenschaftler, Pädagogen, Künstler und andere.
Eines der ersten Interviews führte ich mit Peter Senge, der damals der Direktor des MIT Organizational Learning Center war. Senges Buch The Fifth Discipline (1992; dt. 1996: Die fünfte Disziplin) war einer der Hauptgründe, warum ich am Center arbeitete. Ich begann das Interview so, wie ich das oft tat, nämlich indem ich fragte: »Welche Frage liegt deiner Arbeit zugrunde?«28
Senge sagte, sein Hauptinteresse gelte der Evolution des Bewusstseins menschlicher Systeme. Er erzählte mir dann von seiner kürzlich stattgefundenen Begegnung mit Karl-Henrik