Maßgebend für mich war auch die Auseinandersetzung mit dem Werk Rudolf Steiners. Dessen Synthese von Wissenschaft, Bewusstsein und sozialer Innovation hat meine Arbeit nachhaltig inspiriert (vgl. Steiner 1894), und seine in Goethes phänomenologischer Wissenschaftssicht gründende Methodologie hat die Theorie U entscheidend geprägt.
Am einfachsten lässt sich die Theorie U in der Landschaft intellektueller Traditionen verorten, indem man sie als angewandte Phänomenologie betrachtet – eine achtsame phänomenologische Praxis zur Erforschung des sozialen Feldes. In diesem Zusammenhang war die Arbeit von Friedrich Glasl eine weitere wichtige Inspirationsquelle für mich. Angeregt durch die Arbeit Rudolf Steiners entwickelte Glasl ein mit der Theorie U verwandtes Konzept, das Unternehmen und Organisationen als miteinander zusammenhängende Subsysteme auffasst (Glasl 1997, 1999).
Die wichtigsten Erkenntnisse, die ich aus Steiners Grundwerk, Die Philosophie der Freiheit (1894), gewann, sind dieselben, die sich nach Abschluss meines ersten MIT-Forschungsprojekts mit Edgar Schein einstellten. In diesem Forschungsprojekt untersuchten wir die verschiedenen Veränderungstheorien, mit denen Wissenschaftler an der MIT Sloan School of Management arbeiteten. In unserer Auswertungssitzung betrachtete Ed Schein die Ergebnisse unserer Untersuchung, eine recht komplexe Verflechtung von Konzepten und Referenzrahmen, und sagte:
»Vielleicht sollten wir zurück zu den Daten gehen und noch mal ganz von vorne anfangen. Vielleicht müssen wir unsere eigenen Erfahrungen mit Veränderungsprozessen ernster nehmen und zum Ausgangspunkt unserer Forschungsarbeit machen.«
Ich verstand das so, dass wir – um mit Steiner zu sprechen – unsere eigene Erfahrung und unseren eigenen Denkprozess klarer, transparenter und rigoroser untersuchen müssen. Mit anderen Worten: Vertraue deinem Wahrnehmungsapparat, vertraue deinen Beobachtungen, vertraue deiner eigenen Wahrnehmung, und mache sie zum Ausgangspunkt der Untersuchung –verfolge diese Beobachtungsreihe dann aber bis zur Quelle, genauso wie Husserl und Varela dies in ihrer Beschäftigung mit der phänomenologischen Methode empfehlen. Die phänomenologische Methode beginnt mit den individuellen Wahrnehmungen. Die Theorie U baut auf dieser Methode auf und stellt die Frage nach den Strukturen und Quellen der kollektiven Aufmerksamkeit in Teams, Organisationen und größeren Systemen.
Das Interview mit Brian Arthur von Xerox PARC
Im Jahre 1999 begann ich ein Projekt mit meinem Kollegen Joseph Jaworski, dem Autor von Synchronicity: The Inner Path of Leadership (Jaworski 1996; Synchronizität: Der innere Weg von Führung). Der Ausgangspunkt war ein Veränderungsprojekt mit einer Gruppe von Managern in einem großen globalen Unternehmen, das nach einem Firmenzusammenschluss gerade neu strukturiert worden war. Ziel des Projekts war es, die Lern- und Innovationsfähigkeiten der Manager in dem sich schnell verändernden wirtschaftspolitischen Umfeld zu vergrößern.
Zunächst interviewten wir Vordenker der Innovationsbranche, unter anderem W. Brian Arthur, den Gründer des wirtschaftswissenschaftlichen Bereichs am Santa Fe Institute. Brian Arthur ist vor allem für seine Arbeit über die Entstehung und Veränderung von Hightech-Märkten bekannt geworden. Als wir am Xerox PARC (Akronym für Palo Alto Research Center) in Kalifornien ankamen, musste ich an die Veränderungen denken, die genau an diesem Ort ihren Anfang genommen hatten. Seit den 1970er Jahren galt das ursprüngliche Xerox-PARC-Team als eines der erfolgreichsten Forschungs- und Entwicklungsteams der letzten Jahrzehnte. Zu den Erfindungen, die in diesem Gebäude entstanden sind, zählt etwa die Benutzeroberfläche, die heute auf fast jedem Desktop-PC der Welt zu finden ist. Neben anderen Technologien hat dieses Team auch die Computermaus erfunden. Viele der hier entstandenen Ideen werden heute von anderen Firmen genutzt, beispielsweise Apple und Adobe. Ironischerweise konnte Xerox aus diesen bahnbrechenden Ideen kein Kapital schlagen. Stattdessen wurden die Ideen von Leuten wie Steve Jobs und anderen, die nicht durch die Leitung einer Druckerfirma abgelenkt waren, aufgegriffen und weiterentwickelt. Als wir uns mit Arthur trafen, fingen wir sofort an, über die sich wandelnden ökonomischen Grundlagen der heutigen Geschäftswelt zu sprechen:
»Um in Hightech-Märkten zu gewinnen«, sagte Arthur, »ist es notwendig, Muster zu erkennen, die diese Märkte bestimmen.« Er beschrieb zwei verschiedene Möglichkeiten der Erkenntnis: »Es gibt zwei Wege, etwas zu verstehen oder zu erkennen. Die allgemein diskutierte Erkenntnisform ist der rationale Verstand, aber es gibt noch eine tiefere Ebene. Ich nenne diese tiefere Ebene ein inneres oder intuitives Wissen.«
»Angenommen«, sagte er, »ich springe mit einem Fallschirm über dem Silicon Valley ab. Plötzlich bin ich mit einer komplizierten dynamischen Situation konfrontiert, und meine Aufgabe ist, sie zu verstehen. Was würde ich tun? Ich würde beobachten und beobachten und wieder beobachten, dann würde ich mich zurückziehen. Mit etwas Glück könnte ich dann einen inneren Ort in mir finden, an dem ich verstehe, was als Nächstes zu tun ist. Einen inneren Ort, an dem ich mich mit meinem durch die Beobachtungen entstandenen Wissen verbinden kann.« Arthur fuhr fort: »Ich würde diesen Prozess wie folgt beschreiben: Du wartest und wartest und lässt deine Erfahrung sich mit der Situation verbinden. In gewisser Weise gibt es kein Entscheiden. Das, was zu tun ist, wird offensichtlich. Du kannst es nicht beschleunigen. Viel hängt davon ab, woher du innerlich kommst und wer du bist, als Mensch. Hieraus ergeben sich viele Implikationen für das Management. Was ich meine, ist, dass das, was zählt, davon abhängt, was in dir selber lebt, woher du tief drinnen in dir selbst kommst.«
Was wir an diesem Tag hörten, stand in enger Verbindung mit dem, was wir in früheren Interviews, aber auch bei unserer Arbeit in Organisationen gefunden hatten. Führungskräfte müssen sich mit ihrem blinden Fleck auseinandersetzen, d. h. den inneren Ort, »was in dir selber lebt«, aus dem heraus sie handeln, verlagern. Arthur ergänzte:
»Stell dir vor, was passieren würde, wenn Apple sich zum Beispiel entschließen würde, einen ehemaligen CEO von Pepsi-Cola einzustellen? Diese Person würde ein bestimmtes Wissen mitbringen: Kosten runter, Qualität rauf oder wie auch immer ihr Mantra lautet. Und es würde nicht funktionieren. Aber nun versuche, dir vorzustellen, ein Steve Jobs käme – jemand, der von einem Problem zurücktreten und anders denken kann. Als Steve Jobs zu Apple zurückkam, war das Internet in seinen Anfängen. Niemand konnte absehen, was diese Entwicklung bedeuten würde. Schau ihn dir heute an: Er vollbrachte den Turnaround bei Apple. Erstklassige Wissenschaftler arbeiten genauso. Die guten, aber nicht erstklassigen Wissenschaftler können existierende Bezugssysteme nehmen und sie auf irgendeine Situation anwenden. Die erstklassigen treten einen Schritt zurück und lassen eine Idee oder einen Bezugsrahmen entstehen. Meine Erfahrung ist, dass diese Wissenschaftler nicht mehr Intelligenz besitzen als die guten Wissenschaftler, aber sie haben diese andere Fähigkeit, und das macht den ganzen Unterschied aus.«
Diese »andere Art des Wissens« zeigt sich auch bei chinesischen und japanischen Künstlern. Arthur benutze das folgende Bild:
»Diese Künstler sitzen eine ganze Woche lang auf einem Sims mit Laternen und schauen nur. Dann plötzlich sagen sie ›Oh!‹ und malen dann sehr schnell.«
Auf dem Rückweg begriffen wir, dass dieses Gespräch mit Arthur uns zwei wesentliche Erkenntnisse geliefert hatte. Die erste ist, dass es eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Erkenntnis gibt: eine »normale« Ebene des Wissens (mentale Bezugssysteme runterladen) und eine tiefere. Außerdem hatten wir von ihm gehört, dass, um diese tiefere Ebene des Wissens aktivieren zu können, man ähnlich wie bei Arthurs beispielhaften Fallschirmsprung über dem Silicon Valley durch einen dreistufigen Prozess gehen muss:
1) Beobachte in der Tiefe,
2) verbinde dich mit dem, was in dir als Wissen entsteht, und
3) handele unmittelbar aus der Anwesenheit dieser tieferen Anschauung.
Ich