4.Das U ist ein lebendiger, kein linearer mechanischer Prozess.
Auf diese fünf Punkte wird hier und im weiteren Verlauf des Buches genauer Bezug genommen.
1. Wir brauchen eine neue soziale Technik, die auf der Feinabstimmung von drei Instrumenten basiert
In Innovations- und Veränderungsprojekten habe ich beobachtet, dass viele erfahrene Führungskräfte diese tieferen Ebenen des U aus ihrer eigenen Erfahrung her kannten, jedoch viele Organisationen, Institutionen und größere Systeme ausschließlich auf Ebene 1 oder 2 operierten. Warum? Ich glaube, es fehlt eine neue soziale Führungstechnologie, die diese unteren Ebenen zugänglich macht. Ohne diese Kapazität bleiben Prozesse in den Strukturen der Vergangenheit. Viele Initiativen zur »Restrukturierung« oder des »Re-engineering« bieten Beispiele, die lediglich zu mehr Frustration und Zynismus bei den Beteiligten führen.
Der Zugang zu den unteren Ebenen bedarf der Entwicklung einer neuen Art der sozialen Technik, die auf drei Instrumenten oder Sensorien basiert, die jeder von uns schon besitzt – einem Öffnen des Kopfdenkens, einem Öffnen des Herzdenkens und einem Öffnen der Willenskapazitäten (Abb. 2.6). Diese Sensorien müssen nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auch auf der kollektiven Ebene ausgebildet und kultiviert werden.
Die erste Kernkompetenz oder das erste Instrument, die Fähigkeit zur Öffnung des Kopfdenkens, basiert auf unserem Vermögen, analytisch und intellektuell sauber zu arbeiten. Häufig wird der Grad dieser Fähigkeit mit dem IQ ausgedrückt. Diese Fähigkeit ermöglicht es uns, mit den objektiven Zahlen und Fakten in unserem Umfeld umzugehen. Der Verstand ist wie ein Fallschirm, wie man so schön sagt – er funktioniert nur, wenn er offen ist.
Die zweite Kernkompetenz, die Fähigkeit zur Öffnung des Herzdenkens, beschreibt unsere Fähigkeit, unsere emotionale Intelligenz (EQ) zu gebrauchen. Emotionale Intelligenz beschreibt unsere Kapazität, mit anderen mitzufühlen, sich in andere Kontexte hineinzufinden und aus der Perspektive einer anderen Person wahrzunehmen.
Die dritte Kernkompetenz, die Fähigkeit zur Öffnung des Willens, hängt mit unserem Vermögen zusammen, das alte Ich und die alte Intention loszulassen und das neue, werdende (oder höhere) Ich und die neue Intention anwesend werden und kommen zu lassen. Diese Form der Intelligenz wird manchmal auch als Intention, spirituelle Intelligenz (SQ) oder Selbsterkenntnis bezeichnet.
Abb. 2.6: Drei Instrumente: Öffnung des Denkens, des Fühlens und des Willens
Jedes dieser drei Instrumente kann für die individuelle (subjektive) wie auch für die kollektive (intersubjektive) Ebene ausgebildet werden.
2. Das wichtigste Führungswerkzeug ist dein Selbst
Die zweite Erkenntnis betrifft die Tatsache, dass jeder Mensch sich entwickelt und verändert, und die Einsicht, dass wir nicht ein Selbst darstellen, sondern zwei:25
•Jeder Mensch ist das Selbst oder die Person, die er oder sie aufgrund seines (vergangenen) Lebensweges geworden ist. Das gilt auch auf kollektiver Ebene für Gruppen oder Organisationen.
•Das zweite Selbst ist die Person oder die Gemeinschaft, die wir auf unserem weiteren Lebensweg werden können. Dieses Selbst oder diese Person ist unsere höchste Zukunftsmöglichkeit.
Diese zwei Personen oder Aspekte des »Selbst« begegnen sich im Moment des Presencing, also im tiefsten Punkt des U-Prozesses.
Im weiteren Verlauf des Buches wird diese Begegnung im Detail betrachtet. An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass die Begegnung dieser zwei »Selbst« einen Schritt über eine Schwelle oder einen Weg durch ein Nadelöhr voraussetzt. Ohne diesen Schritt oder Weg bleiben Veränderungsbemühungen oberflächlich. Sie berühren nicht den wesentlichen Kern unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit. In diesem Schritt werden unser Ego und unser Gewohnheits-Selbst fallen gelassen, damit unser Zukunftspotenzial oder unser höheres Selbst realisiert werden kann.
Wenn »Selbst 1« und »Selbst 2«, das alltägliche und das höhere Selbst, beginnen, miteinander zu kommunizieren, baut sich eine zarte, aber sehr reale Verbindung zu unserer zukünftigen Möglichkeit auf (Abb. 2.7), die uns dann Hilfe und Anleitung in Situationen bietet, für die uns die Vergangenheit keine nützlichen Ratschläge mehr geben kann.
Das wichtigste Werkzeug dieser neuen Führungstechnik ist also das Selbst.
Abb. 2.7: Das (höhere) Selbst als wichtigstes Werkzeug
3. Innere Führungsarbeit muss sich mit drei Feinden auseinandersetzen
Die dritte Erkenntnis betrifft folgendes Rätsel: Warum ist der Weg zu den tieferen Ebenen des U der weniger beschrittene Weg? Weil er schwierige innere Arbeit abverlangt. Um »durch das Nadelöhr« zu gehen, müssen wir uns u. a. drei Stimmen des inneren Widerstands (drei »Feinden«) stellen und uns mit ihnen auseinandersetzen. Der erste Feind blockiert ein Öffnen des intellektuellen Denkens. Michael Ray nennt diesen Feind die Stimme des Urteilens (SdU [Voice of Judgment: VoJ]). Gelingt es nicht, diese Stimme des Urteilens zum Schweigen zu bringen, kann kein Prozess hin zu unserer realen Kreativität stattfinden.
Der zweite Feind blockiert den Zugang zu einem Öffnen des Herzdenkens. Dies ist die Stimme des Zynismus (SdZ [Voice of Cynism: VoC]). Zynismus umfasst alle Formen von emotionellen Handlungen, die zu einer Distanzierung von der aktuellen Situation führen.
Eine Schwierigkeit, wenn eine Öffnung der Herzintelligenz beginnt, ist oft, dass die betreffende Person eher verletzbar erscheint. Dann bietet sich eine zynische Distanzierung oft als der einfachere Weg an. Dennoch ist die Stimme des Zynismus letztlich genauso dysfunktional wie die Stimme des Urteilens, wenn es darum geht, auf den Quellort des authentischen Selbst und die Quellen der schöpferischen Kreativität zuzugreifen.
Abb. 2.8: Den drei Feinden entgegentreten: der Stimme des Urteilens (SdU), der Stimme des Zynismus (SdZ), der Stimme der Angst (SdA)
Der dritte Feind blockiert den Zugang zu einer Öffnung des Willens. Dieser Feind ist die Stimme der Angst (SdA [Voice of Fear: VoF]). Angst hindert uns daran, das, was wir haben und sind, loszulassen. Diese Angst hat viele Formen: Angst vor ökonomischen Problemen, Angst, ein Außenseiter zu sein, Angst, sich lächerlich zu machen, Angst, mit dem eigenen Vorhaben zu scheitern. Angst vor dem Tod. Dieser Stimme der Angst mit Mut entgegenzutreten und sie produktiv zu verwandeln ist eine wesentliche Führungsaufgabe unserer Zeit. Die im Entstehen begriffene Zukunft kann erst dann beginnen, Form anzunehmen und ankünftig zu werden, wenn wir