Sieh nichts Böses. Kayla Gabriel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kayla Gabriel
Издательство: Bookwire
Серия: Alpha Wächter
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969695388
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ist in Gefahr!“

      Echo zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie antworten sollte. Das Problem bei einem Gespräch mit dem jungen Aldous lag darin, dass er wie die meisten Geister über kein Kontextwissen verfügte. Wenn ein Geist erst einmal den Schleier passierte und in die nächste Welt überging, spürte er den Verlauf der Zeit nicht länger. Genauso wenig war er sich bewusst, dass die Welt sich ohne ihn weiterdrehte. Geister erschienen im Reich der Menschen, wenn etwas sie dort verankerte und davon abhielten weiter ins nächste Reich zu gehen, das vor ihnen lag.

      Obwohl sie verankert waren, existierten Geister nur als Bruchteil einer Erinnerung, ein winziges Stück einer menschlichen Seele, die in der Zeit feststeckte und nur aufgrund der einzigen Informationen und Verständnis handelte, über die sie verfügten: die genauen Umstände ihres Todes.

      Das machte sie, Echos Meinung nach, nicht gerade zu einer guten Gesellschaft. Vor allem dann, wenn der Geist zufällig einst ein Bautechniker war, wie Aldous, dessen gesamte Aufmerksamkeit auf das Hochwasser gerichtet war, das die Bevölkerung stark dezimieren würde und hatte… 1908.

      „Aldous, wenn ich verspreche, noch heute zum Rathaus zu gehen und mit dem Bürgermeister persönlich zu reden, wirst du mich dann meinen Geschäften nachgehen lassen?“, fragte Echo.

      Aldous stimmte mit einem schwermütigen und geisterhaften Nicken zu, ehe er vor ihren Augen verblasste und verschwand. Echo atmete schwer aus, während sie das Faubourg Marigny betrat und nach der richtigen Stelle Ausschau hielt, um den Graumarkt zu betreten. Manchmal auch als Le Bon Marche oder Voodoo-Markt bezeichnet, stellte der Graumarkt ein großes Netzwerk an Geschäften dar, die diejenigen bedienten, die alle möglichen Magiearten praktizierten, sowie an alle anderen Kith, die… nun, irgendetwas benötigten.

      Der Trick, den Graumarkt zu betreten, bestand darin, dass es zu jedem Zeitpunkt zwischen einem Dutzend und einhundert Eingänge und Ausgänge gab, von denen jeder zu einem einzigartigen und oft willkürlichen Ort am Graumarkt führte. Der Markt war vergleichbar mit einer Pie-Backform, die mit Perlen gefüllt war, von denen jede mit ihrem Nachbarn durch ein Labyrinth an miteinander verknüpften Fäden verbunden war. Die Perlen bestanden aus Zauberspruchbücherläden, Kräuterapotheken, exotischen Bordellen und jeder anderen Art von dunklem, staubigem, nervenaufreibendem Laden.

      Die Eingänge und Ausgänge des Graumarktes waren vor den Blicken der Menschen raffiniert verborgen. Manche waren schlichte Türen, durch die man hindurchlief und die scheinbar in ein Haus oder Bar führten. Ein Mensch würde durch diese Tür in einen Lebensmittelladen oder die Lobby eines Apartmentkomplexes treten. Ein Mitglied der Kith würde hingegen den einzigartigen Zugangssatz des Portals herausfinden und laut aussprechen, wodurch es Zugang zum Markt erhielt.

      Echo schlenderte die Chartres Street hinab und suchte nach nichts und etwas zugleich. Das hieß, sie suchte nicht nach etwas Besonderem, sondern stattdessen nach etwas, das leicht merkwürdig oder fehl am Platz wirkte und von einem Hauch Magie umgeben war…

      Echo entdeckte eine funkelnagelneue BellSouth Telefonzelle, die leicht versteckt neben einem verwitterten „Shotgun-Haus“ stand. Dessen Zimmer waren in einer geraden Linie angeordnet, sodass man von der Eingangstür direkt bis in den hinteren Garten schauen beziehungsweise schießen konnte, woher auch der Name stammte. Da 2015 war, ging Echo davon aus, dass man neue Telefonzellen heutzutage nicht mehr unbedingt an jeder Straßenecke fand. Sie joggte zu der Telefonzelle, öffnete die Tür und schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter, als sie hineintrat.

      Sie reiste mühelos zum Graumarkt, indem sie aus der Telefonzelle auf eine zwielichtige Gasse trat. Sie sah sich um und lief durch die Gasse, um sich anschließend auf einer der Hauptstraßen des Marktes wiederzufinden, der Carré Rouge. Dieser Bereich des Marktes wurde stets auf magische Weise von Mondlicht erhellt, da er hauptsächlich Vampire bediente, die auf der Suche nach Blutbanken, lebenden Spendern oder Bordellen waren… oder irgendeiner Kombination aus diesen Dingen. Der Rest des Marktes schien von einer unbestimmten Quelle in eine Art schwaches Dämmerlicht getaucht zu werden. In der Carré Rouge war es sogar noch dunkler.

      Und gruseliger, wenn man Echo fragte.

      Echo erschauderte und eilte rasch aus der Carré Rouge, wobei sie den Atem anhielt, bis sie auf den Marktplatz trat. Ein Wirrwarr aus Anblicken, Lauten und Gerüchen verwirrte ihr die Sinne, als sie anhielt, um den großen Markt zu betrachten. Auf dem Marktplatz gab es an die dreihundert Stände, die sich in unregelmäßigen Reihen auf dem Platz drängten. Die Verkäufer boten kleinere Gegenstände feil, alles von kandierten Äpfeln, die mit Liebeszaubern versehen waren, bis hin zu preiswerten fertiggebrauten Tränken, billigen Zauberstäben und Kristallkugeln für Wahrsager. Auf dem Marktplatz wurde mit Plunder gehandelt. Erfahrenere Praktiker der Künste kauften ihre Güter hinter den Ständen bei den Dutzend Querstraßen, in denen sich die Einzelhändler befanden.

      Echo ließ die Stände links liegen und ging direkt zur anderen Seite des Marktes. Auf ihrem Weg zu Robichaux’s Kräuter und Tränke musterte sie ihre Umgebung. Es war ruhig auf dem Markt. Früher Morgen in der Welt der Menschen bedeutete, dass viele Kith noch schliefen, weil sie das Sonnenlicht mieden oder sich erholten, da sie lange aufgeblieben waren. Nach Mitternacht ging es auf dem Markt am geschäftigsten zu, weshalb viele Läden und Stände vor Mittag erst gar nicht öffneten, manche sogar noch später.

      Sie drückte die Eingangstür auf und lächelte über das vertraute Bimmeln der Glocke, die Miss Natalie auf die Anwesenheit eines Besuchers aufmerksam machte. Echo war überrascht, den Laden leer vorzufinden. Sie hatte den Laden noch nie betreten, ohne sofort die ältere Kräuterverkäuferin zu erblicken, die mit einem Lächeln und dem neuesten Kith Tratsch auf sie wartete.

      Echo schloss die Tür und schaute eine Minute zu dem unbesetzten Tisch, dann zuckte sie mit den Achseln. Der Kassentisch stand mittig vor der hinteren Ladenwand und wurde zu beiden Seiten von drei Reihen weißer, hoch aufragender Holzbücherregale flankiert. Jeder Gang beinhaltete Regale voller Pflanzen, die nach Gattung und Zweck gruppiert waren. Die lebenden Exemplare wuchsen unter gewölbten Glasglocken, wohingegen die getrockneten und zu Puder verarbeiteten Produkte in Gefäßen jeder Art und Form aufbewahrt wurden. Obwohl die Sammlung etwas überwältigend war, waren die Behälter fein säuberlich beschriftet und organisiert.

      Echo fand sofort, wonach sie suchte, schraubte den Deckel des Einweckglases ab und nutze die Zange darin, um einige Blätter herauszufischen. Anschließend ließ sie die Blätter in eine kleine Plastiktüte fallen, die sie in ihrer Handtasche mitgebracht hatte. Die Blätter, die sie hier kaufte, verdarben nach weniger als einer Woche, weshalb sie diese Besorgung recht häufig machte.

      „Kann ich Ihnen helfen, Miss?“

      Echo Caballero wirbelte herum, wobei sie beinahe mehrere der Gefäße auf dem gegenüberliegenden Regal umwarf, die alle verschiedene Arten von getrockneten Fröschen und Molchen zu enthalten schienen. Sie legte den Kopf schief und schaute zu dem Mann, der am anderen Ende des Ganges stand und ihren Ausgang blockierte. Er wirkte hier völlig fehl am Platz. Zum einen trug er einen ausgebeulten, dunklen Anzug. Das war nicht gerade die übliche Kleidung der Hexer, Priesterinnen und Kith-Käufer, die den Graumarkt frequentierten. Zum anderen war der Mann nicht Natalie Robichaux, die Ladenbesitzerin.

      „Ähhh, ich brauche nur etwas Hexenblatt“, erzählte Echo stirnrunzelnd. Sie hielt das Tütchen hoch, um ihm zu zeigen, dass sie es bereits gefunden hatte.

      „Richtig, richtig“, sagte der Mann. Er machte mit nachdenklicher Miene einen Schritt auf sie zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

      „Wo ist Miss Natalie?“, wollte Echo wissen, deren Mund trocken wurde. Irgendetwas stimmte hier nicht.

      „Sie ist nach draußen gegangen“, erklärte der Mann, ohne zu zögern. „Ich bin Amos, ihr… Neffe.“

      Echo bewahrte eine neutrale Miene, aber am liebsten hätte sie gelacht. Miss Natalie war Kongolesin und ihre Haut so dunkel wie der Mitternachtshimmel. Dieser Mann sprach in einem hiesigen Dialekt und seine Haut war zwar olivfarben, aber ganz bestimmt kaukasischer Herkunft. Die Wahrscheinlichkeit, dass er durch Blut mit Miss Natalie verwandt war, war äußerst gering.

      Dennoch zögerte sie, weil