Trotz der damaligen medialen Panikmache mit prognostizierten Millionen Toten und öffentlichen Impfkampagnen war die Impfbereitschaft in vielen Staaten nur sehr gering ausgeprägt. Die Impfquote variierte in verschiedenen europäischen Ländern sehr stark von unter einem Prozent in der Slowakei und der Tschechischen Republik bis nahezu 60 Prozent in Schweden. In Deutschland lag die Impfquote bei unter zehn Prozent.77 Ein Großteil der auf Grundlage der Pandemie-Ausrufung der WHO bestellten Impfstoffe und Medikamente musste später vernichtet werden. Die Kosten lagen für Länder wie Frankreich, Großbritannien oder Deutschland jeweils in der Größenordnung von einer Milliarde Euro, weltweit bei schätzungsweise 30 Milliarden Euro.
Insbesondere in Schweden kam es in Folge der H1N1-Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix in mehreren hundert Fällen zur unheilbaren Nebenwirkung der Narkolepsie (Schlafkrankheit), von der vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren. Studien bestätigten später den Zusammenhang mit Pandemrix, andere Impfstoffe hatten dieses Problem nicht.78 Im Jahre 2016 verabschiedete das schwedische Parlament ein Gesetz, das für jeden Betroffenen eine Entschädigung von bis zu einer Million Euro vorsieht.79
Im Ergebnis war die Einstufung der Schweinegrippe als Pandemie durch die WHO eine gigantische Fehleinschätzung mit schwerwiegenden Folgen. Die Welt wurde unbegründet in Panik versetzt, ein zweistelliger Milliardenbetrag an öffentlichen Mitteln wurde für Impfdosen aktiviert, von denen später ein wesentlicher Teil wieder vernichtet werden musste, und viele Menschen nahmen durch die Impfung Schaden. Vieles deutet darauf hin, dass der Einfluss privater Akteure aus der Pharmaindustrie in der WHO dabei eine entscheidende Rolle spielte. In der Resolution des Europarates vom Juni 2010 heißt es in Punkt 2 geradezu prophetisch: »Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transparenz und Rechenschaftspflicht dazu führen könnte, dass das Vertrauen in die Empfehlungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sinkt. Das könnte sich bei der nächsten Krankheit von pandemischem Ausmaß – die sich als wesentlich schwerwiegender als H1N1 erweisen könnte – als katastrophal erweisen.«
Corona und die WHO
Diese Warnung von 2010 sollte sich zehn Jahre später bewahrheiten. Ohne Zweifel ist die Corona-Pandemie als ungleich ernsthafter einzuschätzen als die Schweinegrippe und bedarf international koordinierter Maßnahmen. Das heißt aber nicht, dass die Worst-Case-Szenarien, die insbesondere in den ersten Wochen interessanterweise von den gleichen Akteuren wie bei H1N1 in die Welt gesetzt wurden, realistisch waren. Etwa diejenigen von Prof. Neil Ferguson vom Imperial College London, der auf Grundlage von mathematischen Computermodellen bei der Schweinegrippe 65.000 Tote für Großbritannien vorhersagte (tatsächlich starben 500) und schon damals Schulschließungen forderte. Ende März prognostizierte Ferguson 40 Millionen Corona-Tote weltweit, sollten keinerlei Maßnahmen ergriffen werden.80
Am 31. Dezember 2019 wurde dem WHO-Landesbüro in China das später als Sars-CoV-2 bezeichnete neuartige Coronavirus gemeldet, am 30. Januar 2020 erklärte die WHO eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite und schließlich am 11. März 2020 eine Pandemie. Diese Pandemie traf die Welt weitgehend unvorbereitet, obgleich die WHO 2018 vor einer neuen pandemischen »Krankheit X« warnte und etwa der Europarat 2016 auf eine Vorbereitung auf gesundheitliche Notlagen von internationaler Tragweite drängte. Auch verschiedene nationale Gesundheitsinstitute, wie im Jahr 2012 das deutsche Robert-Koch-Institut, legten Pandemieszenarien vor, die zumindest in Deutschland ebenso ignoriert wurden.
Diese Unvorbereitetheit trat wohl am sinnbildlichsten im weltweiten Kampf um Masken und Schutzausrüstung im März und April zutage. Viele Länder erließen Exportverbote, es kam zu wildwestartigen Kämpfen um Lieferungen von Schutzausrüstung auf internationalen Flughäfen. Deutschland erließ ein Exportverbot für Schutzausrüstung, das Italien genau in der Zeit traf, als die dortigen Gesundheitssysteme überlastet waren. Ein Hilfegesuch des südeuropäischen Landes über den Zivilschutzmechanismus der EU wurde von allen anderen EU-Staaten ignoriert.
Bis zum Juni riet die WHO vom Massengebrauch von Masken ab, gleichwohl machten viele Länder ihren Gebrauch in der Öffentlichkeit zur strafbewehrten Pflicht. Anfang Juni änderte die WHO ihre Richtlinien und empfahl den Gebrauch in überfüllten öffentlichen Einrichtungen wie dem Öffentlichen Personennahverkehr. Personen über 60 Jahren und Vorerkrankten empfahl die WHO nun das Tragen medizinischer Atemschutzmasken. Zugleich warnte sie aber vor einem falschen Gefühl der Sicherheit.81 Wie auch immer man zu diesem emotionsbeladenen Thema steht – es ist offensichtlich, dass die WHO in dieser Frage keine Orientierungsinstanz für die Staaten war und es ist wahrscheinlich, dass in der Debatte nicht nur infektionsepidemiologische Motive eine Rolle spielen. So dürfte der akute Mangel an Schutzausrüstung dazu beigetragen haben, dass auch renommierte Virologen anfangs den Nutzen von Masken bzw. Mund-Nasen-Schutz gegen die Verbreitung des Virus infrage stellten. Bei den Grenzschließungen war die WHO hingegen von Beginn an klar und riet unmissverständlich davon ab, da diese mehr Schaden als Nutzen bringen würden.82 Doch der Appell verhallte weitgehend ungehört.
Insgesamt traf die Corona-Pandemie auf eine unvorbereitete Welt. Die wichtigste Gesundheitsorganisation, die WHO, ist stark unterfinanziert und abhängig von privaten Akteuren mit ihren eigenen Interessen und Prioritäten. Zu allem Überfluss wurde ihre Existenz vom neuen geopolitischen Großkonflikt zwischen den USA und China überlagert. Anfang Juli 2020 erklärten die USA ihren Austritt aus der WHO, der am 6. Juli 2021 wirksam werden würde. Sie begründeten den Schritt vor allem damit, dass die WHO zu unkritisch mit der Pandemie-Bekämpfung Chinas umgegangen sei. Damit werden die grundlegenden Probleme weiter vergrößert, denn die USA sind nicht nur einer der mächtigsten Staaten der Welt, sondern auch größter Beitragszahler der WHO. An ihre Stelle tritt nun die Gates-Foundation.
Perspektiven für eine WHO-Reform
Grundsätzlich müsste eine Reform der WHO zwei Ebenen beinhalten, einerseits ihre demokratisch kontrollierte Stärkung, andererseits ihre finanzielle Unabhängigkeit. Insbesondere der zweite Punkt ist entscheidend, denn ohne ausreichende und frei verfügbare Mittel sind der WHO von vornherein die Hände gebunden.
Im Ende Juni 2020 mit großer Mehrheit angenommenen Corona-Bericht für die Parlamentarische Versammlung des Europarates habe ich bezüglich der WHO mehrere Vorschläge auf diesen beiden Ebenen gemacht:
Die Unabhängigkeit von (überwiegend privaten) freiwilligen Beiträgen, die zweckgebunden gezahlt werden und den Geldgebern damit enormen Einfluss geben.
Die Stärkung der Befugnisse der WHO, etwa auch unangekündigte Besuche bei Notlagen von internationaler Tragweite.
Die genaue Überprüfung und unmittelbare Stärkung der internationalen Gesundheitsvorschriften.
Eine wirksame und unabhängige, idealerweise parlamentarische Kontrolle.
Eine Verpflichtung zur Entwicklung regional anpassungsfähiger Eindämmungsstrategien bei künftigen Gesundheitsgefahren.
Ob sich eine mögliche Reform in diese Richtung entwickeln lässt, hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt davon, ob sich gewachsene weltweite Macht profitgetriebener Akteure im Gesundheitswesen zurückdrängen lässt und ob die Welt in den nächsten Jahren überhaupt jene internationale Kooperationsbereitschaft entwickelt, die der Etablierung der WHO zugrunde lag. Dass enorm viel gemacht werden kann, wenn der politische Wille da ist, hat die Reaktion auf die Corona-Pandemie gezeigt. Ob der politische Wille für eine grundlegende Reform der WHO zur Beseitigung der erwähnten Missstände bei den aktuellen Entscheidungsträgern vorhanden ist, erscheint hingegen wesentlich zweifelhafter.
66 Thomas Gebauer: »Eine Geisel potenter Geldgeber«, Deutschlandfunk Kultur, 18. 05. 2015, https://www.deutschlandfunkkultur.de/weltgesundheitsorganisation-eine-geisel-potenter-geldgeber.1008.de.html?dram:article_id=320082.