Wenn die Reaktion des Staates in einem einzigen Bild zusammengefasst werden kann, wäre es so etwas wie das Video, das ein Bewohner von Wuhan mit dem westlichen Internet über Twitter in Hongkong teilte.59 Es zeigt mehrere Leute, die Ärzte oder Sanitäter zu sein scheinen, Schutzkleidung tragen und Fotos von sich vor der chinesischen Flagge schießen. Die Person, die das Video aufnimmt, erklärt, dass jeden Tag vor dem Gebäude Fotos gemacht werden. Das Video zeigt dann die Männer, wie sie die Schutzkleidung ablegen und rauchend herumstehen, sie benutzen sogar einen Schutzanzug, um ihr Auto abzuwischen. Bevor sie wegfahren, wirft einer die Schutzausrüstung einfach in den Müll und versucht nicht mal, sie so hineinzustopfen, dass sie nicht gesehen wird. Solche Videos haben sich schnell verbreitet, bevor sie zensiert wurden – kleine Risse im dünnen Schleier des staatlich sanktionierten Spektakels.
Auf einer grundlegenderen Ebene zeigt sich die erste Welle wirtschaftlicher Auswirkungen der Quarantäne auf das Alltagsleben der Menschen. Über die makroökonomische Seite wurde viel berichtet: Mit der starken Abschwächung des Wirtschaftswachstums in China droht eine neue globale Rezession, vor allem im Zusammenhang mit der andauernden Stagnation in Europa60 und dem Einbrechen eines wichtigen Wirtschaftsindex in den USA, der einen plötzlichen Rückgang der Wirtschaftstätigkeit zeigt.61 Weltweit prüfen chinesische Unternehmen und die, die von chinesischen Produktionsnetzwerken abhängen, die Klauseln über die Einwirkung höherer Gewalt62 in ihren Verträgen, die Verzögerungen und Widerrufe ermöglichen, wenn der Vertrag nicht erfüllbar ist. Obwohl es im Moment unwahrscheinlich ist, hat allein die Aussicht darauf zu einem Wasserfall an Forderungen nach einer Wiederaufnahme der Produktion im ganzen Land geführt. Das ist bisher nur stückchenweise passiert, in einigen Regionen läuft alles bereits wieder, anderswo steht alles noch unbefristet still.
Andere Auswirkungen waren weniger sichtbar, sind aber viel wichtiger. Viele WanderarbeiterInnen hängen in der Luft, auch die, die über Neujahr am Ort ihres Arbeitsplatzes geblieben oder vor dem Lockdown dorthin zurückgekehrt sind. Aus Shenzhen, wo die große Mehrheit der Bevölkerung MigrantInnen sind, berichten BewohnerInnen, dass die Zahl der Obdachlosen zunimmt. Diese neuen Leute auf der Straße sind keine Langzeit-Obdachlosen, sondern sehen aus, als wären sie hier abgestellt worden, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollen. Sie sind noch relativ gut gekleidet und kennen sich nicht damit aus, wo man am besten übernachten und an Essen kommen kann. Auch der Diebstahl hat zugenommen, vor allem von Essen, das vor die Türen von Menschen in Quarantäne geliefert wurde. ArbeiterInnen in allen Bereichen haben während der Produktionspause Lohnausfälle. Den günstigsten Fall durchleben die ArbeiterInnen von Foxconn in Shenzhen, die sich in Wohnheimen ein bis zwei Wochen in Quarantäne begeben müssen, in der Zeit ungefähr ein Drittel ihres Lohns bekommen, und dann wieder arbeiten dürfen. Ärmere Unternehmen können das nicht bieten, und das Angebot günstiger Kredite63 der Regierung an kleinere Firmen wird langfristig nicht viel helfen. Es scheint, als würde das Virus einfach den Trend zur Verlagerung von Fabriken beschleunigen, denn Firmen wie Foxconn weiten ihre Produktion in Vietnam, Indien und Mexiko aus,64 um den Rückgang in China auszugleichen.
Der surreale Krieg
Eine tief greifende Unfähigkeit im Herzen der Staatsmaschinerie deutet sich an: in der anfänglich ungeschickten Reaktion auf das Virus; im Einsatz von Strafe und Repression, um die Situation zu kontrollieren; und in der Unfähigkeit überregional zu koordinieren, wie Produktion und Quarantäne zeitgleich gehandhabt werden. Wenn, wie unser Freund Lao Xi sagt65, der Schwerpunkt der Regierung Xi im Aufbau des Staates lag, macht es den Eindruck, dass noch viel zu tun ist. Wenn aber das Vorgehen gegen Covid-19 als Probelauf für die Aufstandsbekämpfung zu lesen ist, fällt auf, dass die Regierung nur im Epizentrum Hubei eine effektive Koordinierung zustande gebracht hat und die Reaktion in anderen Gegenden – auch angesehenen und wohlhabenden wie Hangzhou – unkoordiniert und verzweifelt geblieben ist. Das bedeutet zweierlei: Einmal zeigt es die Schwäche hinter der harten Fassade der Staatsmacht, und zweitens ist es eine Warnung vor unkoordinierten und irrationalen Reaktionen vor Ort, wenn die Staatsmacht überfordert ist.
Dies sind wichtige Erkenntnisse in einer Zeit, in der die Zerstörung durch endlose Akkumulation vom globalen klimatischen System bis zu den mikrobiologischen Grundlagen des Lebens reicht. Krisen wie die gegenwärtige werden immer häufiger entstehen. Die säkulare Krise des Kapitalismus nimmt einen scheinbar nicht-ökonomischen Charakter an, und neue Epidemien, Hungersnöte, Überschwemmungen und andere »Naturkatastrophen« werden angeführt werden, um die Ausweitung staatlicher Kontrolle zu rechtfertigen. Der Umgang mit diesen Krisen wird zunehmend dafür genutzt werden, um neue Instrumente der Aufstandsbekämpfung auszuprobieren. Eine kohärente kommunistische Politik muss beides zusammenbringen. Auf der theoretischen Ebene müssen wir verstehen, dass die Kritik des Kapitalismus verkümmert, wenn sie von den Naturwissenschaften abgekoppelt wird. Aber auf der praktischen Ebene heißt das auch, dass politische Projekte heute imstande sein müssen, sich auf einem von ökologischen und mikrobiologischen Katastrophen geprägten Terrain und in einem dauerhaften Zustand von Krise und Atomisierung zurechtzufinden.
In der Quarantäne Chinas sehen wir die ersten groben Züge solch einer Landschaft: leere Straßen im Spätwinter, überzogen mit einer zarten Schicht unberührten Schnees; von Telefonen beleuchtete Gesichter am Fenster; willkürliche Barrikaden, an denen Krankenschwestern, Polizisten, Freiwillige oder einfach bezahlte Schauspieler beauftragt sind, Fahnen zu heben und Menschen anzuweisen, ihre Masken aufzusetzen und zurück nach Hause zu gehen. Die Ansteckung ist sozial. Es sollte daher nicht überraschen, dass sie in einem derart späten Stadium nur durch einen surrealen Krieg gegen die Gesellschaft selbst bekämpft werden kann. Versammelt euch nicht, macht kein Chaos! Aber Chaos kann auch in der Isolation entstehen. Während die Hochöfen zu sanft knisternder Glut und dann zu schneekalter Asche abkühlen, werden die vielen kleinen Verzweiflungen unweigerlich ihren Weg aus der Quarantäne finden und sich zu einem größeren Chaos sammeln, das vielleicht eines Tages, genauso wie die aktuelle soziale Ansteckung, schwer einzudämmen sein wird.
1 Dieser Text erschien Ende Februar 2020 auf Englisch auf der chinesischen Internet-Seite http://chuangcn.org/blog/, die von linken AktivistInnen betrieben wird und dessen AutorInnen ihre Artikel nicht mit Namen zeichnen. Die von Promedia überarbeitete Übersetzung stammt von der Internet-Seite der Zeitschrift Wildcat, https://www.wildcat-www.de/.
2 Siehe hierzu die Financial Times: https://www.ft.com/content/15a4a44c-6735-11e9-9adc-98bf1d35a056
3 Siehe hier den ganzen Artikel der Gunagmin-Tageszeitung: http://www.xinhuanet.com/comments/2020-02/05/c_1125532191.htm