In die so organisierte Finanzierungslücke traten zunehmend freiwillige programmgebundene Beiträge der Mitgliedsstaaten sowie private Akteure mit ihren jeweiligen Interessen. Unter dem Strich bedeutet diese Entwicklung, dass die WHO sich heute nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären Mitgliedsbeiträgen finanziert, über die sie frei verfügen kann, während ca. 70 Prozent der Mittel zweckgebunden sind. Vor 30 Jahren machten die Mitgliedsbeiträge hingegen noch etwa die Hälfte der Einnahmen aus.71
Im Rahmen meiner Corona-Berichterstattung für den Europarat72 hatte ich im Juni 2020 die Möglichkeit, den Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, nach den Folgen dieser Entwicklung zu fragen. Er bestätigte diese Zahlen und sagte: »Das beeinträchtigt unsere Arbeit.« Was auf der Hand liegt: Mit den »freiwilligen Beiträgen« bestimmt der Geber, was gemacht wird. Die sozialen Determinanten von Gesundheit, also Wohn- und Arbeitsverhältnisse, gesunde Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser, die in der Geschichte der WHO durchaus eine Rolle gespielt hatten, treten zugunsten rein kurativ-medizinischer Faktoren – also vermarktbare Medikamente und Impfstoffe – immer mehr in den Hintergrund. Auch in der gegenwärtigen Frage der Strategien gegen Covid-19 werden diese relevanten sozialen Faktoren weitgehend ausgeblendet.
Heimlicher WHO-Chef Bill Gates?
Der Zwei-Jahres-Etat der WHO für die Jahre 2018 und 2019 betrug 5,9 Milliarden US-Dollar, also pro Jahr knapp drei Milliarden Dollar. Damit hatte die weltweit tätige UNO-Gesundheitsorganisation pro Jahr nur wenig mehr Geld zur Verfügung, als beispielsweise die Berliner Charité (zwei Milliarden Euro Gesamteinnahmen in 2019). Allein die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) gibt nach eigenen Angaben pro Jahr vier Milliarden Dollar aus – deutlich mehr als die WHO –, wovon in den Jahren 2016 und 2017 wiederum 629 Millionen an die WHO gingen. Damit war sie zweitgrößte Einzelspenderin. Mit dem Austritt der USA wird die Stiftung zum größten Einzelfinancier der WHO werden – mehr als jeder Staat der Erde.
Dabei ist es vom demokratischen Standpunkt unerheblich, ob man Bill Gates wohltätige oder bösartige Motive unterstellt. Die Kritik am Feudalismus als System gründet sich ja auch nicht an der Haltung dieses oder jenes Königs. Dass ein einzelner Mensch Kraft seines akkumulierten Kapitals einen solchen Einfluss auf die Weltgesundheit hat, ist mit demokratischen Prinzipien völlig unvereinbar. Es ist auch ein direktes Ergebnis der in der neoliberalen Ära beschleunigten und immer wieder beklagten Vermögenskonzentration. Das Problem dieses obszönen Reichtums liegt ja nicht nur darin, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt, wie Brecht es einmal formulierte und wo die Kritik mancher Linker stehen bleibt, sondern auch darin, dass der Reichtum verwendet werden kann, die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen und Interessen zu formen. Und genau das können wir bei der Weltgesundheit beobachten.
Fast alle großen Unternehmen unterhalten Stiftungen, die natürlich zunächst für einen guten Zweck gegründet werden. Dabei geht es jedoch primär darum, Politik und Gesellschaft im Interesse der Stiftungsgründer zu beeinflussen. Das Stiftungskapital der Gates-Foundation von knapp 50 Milliarden Euro ist in Konzernen wie Coca-Cola, Walmart, Monsanto (seit 2018 Teil von Bayer), aber auch in der Rüstungs- und Pharmabranche investiert. So entstehen zwangsläufig Interessenskonflikte. Denn die Profitinteressen dieser Konzerne widersprechen gesundheitspolitischen Zielen fundamental. So macht die Stiftung auf der einen Seite Gewinne mit Produkten, die Krankheiten wie Diabetes verursachen, an deren Folgen weltweit rund vier Millionen Menschen pro Jahr sterben. Oder – Beispiel Nestlé – mit Ersatzprodukten für Muttermilch, die Müttern als vermeintlich bessere Alternative zum Stillen verkauft werden. Diese Gewinne werden dann teilweise in die Förderung von Gesundheit investiert.
Dabei werden vor allem technische und konkret messbare Lösungen bevorzugt, beispielsweise Impfkampagnen oder die Verteilung von Moskitonetzen. Dies ist zwar an sich nicht schlecht, führt jedoch dazu, dass andere wichtige Bereiche wie eine Stärkung der Primärversorgung und ein Fokus auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Krankheiten wahrscheinlicher machen, vernachlässigt werden.
Der Journalist Thomas Kruchem fasste das Dilemma wie folgt zusammen: »Für die Gates-Stiftung heißt dies: Je mehr Profite die genannten Firmen machen, desto mehr Geld kann sie für die WHO ausgeben. Für die WHO heißt es: Mit jeder Maßnahme gegen gesundheitsschädliche Aktivitäten der Süßgetränke-, Alkohol- und Pharmaindustrie würde die WHO die Gates-Stiftung daran hindern, das Geld zu erwirtschaften, mit dem die Stiftung die WHO finanziert. Kurz, die Weltgesundheitsorganisation steckt in einem klassischen Interessenkonflikt, der sie in ihren Handlungsmöglichkeiten schwächt und der angesichts ihrer finanziellen Abhängigkeit von der Gates-Stiftung unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum aufzulösen ist.«73
Schweinegrippen-Skandal
Der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie ist auch deshalb so schwierig, weil die WHO bei der letzten Pandemie-Ausrufung vor Corona völlig daneben lag. Die im Vergleich zur jährlichen Grippewelle relativ milde H1N1-Influenza aus den Jahren 2009 und 2010 (sogenannte Schweinegrippe) wurde von der WHO am 11. Juni 2009 zur Pandemie mit der höchsten der damals gültigen Pandemiestufen (Stufe sechs) erklärt. In der Folge sind in fast allen Mitgliedsstaaten vorbereitete Pandemie-Pläne in Kraft getreten bis hin zu milliardenschweren Verträgen mit Impfstoffherstellern, durch die sich die Staaten (in Deutschland die Bundesländer) zur Abnahme großer Mengen von Impfstoffen verpflichteten.
Die parlamentarische Versammlung des Europarates setzte im Dezember 2009 auf Initiative Dr. Wolfgang Wodargs, der damals als Bundestagsabgeordneter für die SPD Mitglied der Versammlung war, einen Untersuchungsausschuss ein. Im Juni 2010 wurde ein Abschlussbericht vorgelegt, der von der Versammlung mit großer Mehrheit angenommen wurde.74 Berichterstatter war nicht mehr Wodarg, da er Anfang 2010 aus der Versammlung ausschied, sondern der britische Labour-Abgeordnete Paul Flynn.
Besonders umstritten war damals die wenige Wochen vor der Pandemie-Ausrufung von der WHO vorgenommene Änderung der Kriterien dafür. So stellte der Bericht fest: »Vor dem 4. Mai 2009 lautete die Definition, dass eine Influenzapandemie dann vorliege, wenn ein neues Influenzavirus auftauche, gegen das die Bevölkerung nicht immun sei, was zu weltweiten Epidemien mit einer hohen Zahl von Todesfällen und Erkrankungen führen werde.«75 Der Schweregrad, also die Zahl der schweren Verläufe oder Todesfälle, fand sich anders als zuvor nicht mehr in der Definition wieder. Die genauen Umstände dieser bis heute bestehenden Änderung der Pandemie-Definition bleiben unklar.
Der Bericht kritisiert die Intransparenz der Kriterien-Änderung bei der WHO scharf. In der von der Versammlung mit nur einer Gegenstimme angenommenen Resolution heißt es in Punkt 2: »Die Versammlung stellt fest, dass gravierende Mängel in Bezug auf die Transparenz der Entscheidungsabläufe im Zusammenhang mit der Pandemie festgestellt wurden, die Bedenken hinsichtlich eines möglichen Einflusses der Arzneimittelindustrie auf einige der wichtigsten Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie hervorgerufen haben. Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transparenz und an Rechenschaftspflicht dazu führen wird, dass das Vertrauen in die Empfehlungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen schwindet.«
In den Jahren seit der Pandemie hat eine teils selbstkritische Debatte über die Änderung der Pandemie-Definition stattgefunden. Ein auf der Webseite der WHO veröffentlichter Text76 gesteht zumindest ein, dass in der Debatte »beide Seiten teilweise recht haben«. Denn die WHO verteidigte sich damit, dass es sich bei den kritisierten Richtlinien nicht um eine Definition gehandelt habe, sondern um einen Stufenplan für den Umgang mit der Verbreitung eines neuen Virus. Zugleich sei aber das Ziel, durch diesen Plan Panikmache zu vermeiden, gerade nicht erreicht worden – im Gegenteil. Tatsächlich wäre es medizinisch