Ich wusste noch nicht, wie die Geschichte weitergehen sollte. Bisher verlief alles unkompliziert und friedlich, aber die Geschichte konnte genauso gut eine bedrohliche Wendung nehmen.
Nach Mitternacht, als ich immer noch an meinem Roman arbeitete, hörte ich ein Geräusch. Es war, als klopfte jemand gegen eine Glasscheibe. Ich hielt inne und horchte genau hin, aber draußen rauschte nur der Wind. Nachdem ich eine weitere Zeile geschrieben hatte, klopfte es abermals. Klack, klack, klack … Es war ein regelmäßiges, aber zögerliches Klopfen.
Ich zog den Vorhang auf und schaute nach draußen. Die umliegenden Häuser waren allesamt dunkel, die Straße menschenleer. Ich schloss die Augen und horchte aufmerksam hin, um herauszufinden, woher das Klopfen kam, bis mir klar wurde, dass es aus dem Keller nach oben drang.
Nach dem Tod meiner Mutter war ich nur selten in ihrem Atelier gewesen. Die Tür war stets verschlossen. Weil ich den Schlüssel fast nie brauchte, dauerte es eine Weile, bis ich ihn fand. Es schepperte mächtig, als ich in einer Schublade nach der Metalldose mit dem Schlüsselbund kramte. Ich wusste, es wäre besser gewesen, ruhig und behutsam vorzugehen, aber das gleichmäßige Klopfen war so beharrlich, dass es mich zur Eile trieb.
Schließlich öffnete ich die Kellertür und stieg die Treppe hinab. Als ich die Taschenlampe anknipste, sah ich durch die Glastür, die zum Waschplatz am Flussufer führte, menschliche Gestalten.
Der Waschplatz diente seit dem Tod meiner Großmutter nicht mehr zum Wäschewaschen, hatte seinen Namen jedoch beibehalten. Meine Mutter hatte dort manchmal ihre Werkzeuge gereinigt, aber das war nun auch schon fünfzehn Jahre her. Die in die Uferböschung eingelassene und mit Ziegelsteinen befestigte Stelle war etwa zwei Meter breit. Man gelangte durch die Glastür im Keller dorthin. Über den lediglich drei Meter breiten Wasserlauf führte ein Holzsteg, den mein Großvater einst errichtet hatte, der nun aber völlig morsch war.
Was hatten diese Leute dort zu suchen?
Ich überlegte, was ich tun sollte.
Waren es Einbrecher? Nein, Einbrecher würden nicht anklopfen. Irgendwelche Sittenstrolche? Nein, dann wären sie nicht so zurückhaltend.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief: »Wer ist da?«
»Entschuldigen Sie vielmals die späte Störung. Wir sind’s, die Inuis.«
Als ich die Tür öffnete, stand dort die Familie von Professor Inui. Die Eheleute waren alte Freunde meiner Eltern gewesen. Er arbeitete als Professor für Dermatologie im Universitätskrankenhaus.
»Was ist passiert?«, fragte ich erschrocken und bat sie sogleich ins Haus.
Das Rauschen des Flusses machte die hereinströmende Kälte noch durchdringender.
»Verzeihen Sie bitte. Mir ist vollauf bewusst, dass wir ungelegen kommen …«
Der Professor entschuldigte sich mehrmals, während sie eintraten. Seine Frau war ungeschminkt, ihre Wangen wirkten durchsichtig und die Augen feucht, entweder von der Kälte oder ihren Tränen. Die fünfzehnjährige Tochter stand mit verkniffenem Mund da, während ihr achtjähriger Bruder sich neugierig umschaute. Die vier klammerten sich förmlich aneinander. Das Ehepaar hatte sich untergehakt, wobei der Professor einen Arm um die Schultern seiner Tochter gelegt hatte. Die Geschwister hielten sich an der Hand, und der Kleine hing am Mantelsaum seiner Mutter.
»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Wie haben Sie es nur geschafft, heil über den Steg zu kommen? Hatten Sie keine Angst? Das Holz ist vollkommen morsch. Wieso haben Sie denn nicht an der Haustür geklingelt? Kommen Sie mit nach oben ins Wohnzimmer, dort ist es schön warm.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich fürchte, uns bleibt keine Zeit. Wir dürfen kein Aufsehen erregen.«
Der Professor stieß einen Seufzer aus. Wie auf Kommando rückte die Familie noch enger zusammen. Alle vier trugen edle Kaschmirmäntel, Hals und Hände waren in warme Stricksachen gehüllt. Außerdem hatte jeder eine Tasche dabei, die seiner Körpergröße entsprach. Das Gepäck schien sehr schwer zu sein.
Ich räumte rasch den Arbeitstisch meiner Mutter frei und holte ein paar Stühle, damit sie sich setzen konnten. Sie stellten die Taschen unter den Tisch. Ich konnte kaum erwarten, zu erfahren, was vorgefallen war.
»Nun hat es auch uns getroffen«, begann der Professor. Er verschränkte die Finger und formte mit seinen Händen einen Hohlraum, als wollte er darin seine Stimme verbergen.
»Was ist passiert?«, bedrängte ich ihn, als er stockte. Ich wartete gespannt auf eine Antwort.
»Eine Vorladung von der Behörde.«
Der Professor sprach ruhig und sachlich.
»Aber … wieso?«
»Sie haben uns ins Institut für Genentschlüsselung bestellt. Morgen … nein, es ist ja schon heute. Ich soll mich dort einfinden. Sie haben mich von meinen Funktionen entbunden. Wir mussten sofort meine Dienstwohnung verlassen. Der Befehl lautet, dass ich mit meiner ganzen Familie in das Forschungszentrum ziehen soll.«
»Und wo befindet sich das?«
»Ich habe keine Ahnung. Niemand weiß, wo genau es liegt und wie es aussieht. Aber ich ahne, was dort vor sich geht. Offiziell gibt das Institut vor, als medizinische Forschungseinrichtung zu dienen, aber tatsächlich steckt es mit der Erinnerungspolizei unter einer Decke … Ich vermute, dass sie meine Forschungsergebnisse nutzen wollen, um Personen aufzuspüren, die ihre Erinnerungen bewahren können.«
Mir fiel ein, was R mir neulich in der Lobby des Verlags erzählt hatte. Es war also doch kein Gerücht gewesen. Und nun waren Menschen betroffen, die mir nahestanden.
»Die Anweisung kam vor drei Tagen. Uns blieb keine Zeit, die Angelegenheit in Ruhe zu überdenken. Ich soll das Dreifache verdienen. Es gibt auch Bildungseinrichtungen für die Kinder. Steuererleichterungen, kostenfreie Krankenversicherung, Dienstwohnung, Dienstwagen. Die Bedingungen sind so vorteilhaft, dass es einem fast schon Angst macht.«
»Es war der gleiche Umschlag wie vor fünfzehn Jahren.«
Zum ersten Mal ergriff seine Frau das Wort. Ihre Stimme war tränenerstickt. Die Tochter hörte schweigend zu, während sie den Kopf zwischen dem jeweils Sprechenden hin- und herdrehte. Ihr kleiner Bruder hatte seine Handschuhe anbehalten und nahm die Werkzeuge auf dem Tisch in Augenschein.
Ich erinnerte mich an jenen Tag vor fünfzehn Jahren, als meine Mutter verhaftet wurde. Damals hatten Herr und Frau Inui sich um mich gekümmert. Ich selbst war noch ein kleines Mädchen, und ihre Tochter war gerade auf die Welt gekommen.
Die Vorladung steckte in einem lilafarbenen Umschlag aus rauem Papier. Damals wusste niemand etwas von der Erinnerungspolizei, und weder meine Eltern noch die Inuis machten sich Sorgen. Sie waren nur verwundert darüber, dass man meine Mutter einbestellte, und niemand konnte sagen, wie lange die Untersuchung dauern sollte, ob es sich um Stunden oder Tage handeln würde.
Ich ahnte bereits, dass die Angelegenheit mit den Schubladen unten im Atelier zu tun hatte. Während die Erwachsenen über die Vorladung diskutierten, dachte ich an das Flüstern meiner Mutter, wenn sie mir von den geheimen Dingen erzählte, und an ihre leidvolle Miene, als ich sie fragte, wieso sie nicht wie alle anderen Menschen vergessen konnte.
Alle waren ratlos. Es gab aber keinen Grund, sich der Anordnung zu widersetzen.
»Keine Sorge, so schlimm wird es nicht werden«, sagte der Professor.
»Wir hüten derweil das Haus und passen auf das Kind auf«, bekräftigte Frau Inui.
Die Limousine, die meine Mutter am nächsten Morgen abholte, war erstaunlich luxuriös. Ein schwarzer Wagen, auf Hochglanz poliert, fast