Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yoko Ogawa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954381234
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das Wasser plätschern hören. Es war ein zarter Klang. So als spielte jemand in der Ferne auf einer Harfe.

      »Ich habe mich schon immer gewundert«, sagte ich und schaute ihn von der Seite an, »wie gelingt es der Polizei, die Leute aufzuspüren? Ich meine diejenigen, die keine Auswirkungen spüren, wenn etwas verschwindet. Äußerlich unterscheiden sie sich doch kein bisschen von anderen Menschen. Es sind Männer und Frauen, aus allen Altersgruppen, aus unterschiedlichen Familien. Wenn sie also auf der Hut sind und sich unauffällig unter die Leute mischen, dürfte ihnen doch nichts anzumerken sein. Es kann doch nicht so schwer sein, so zu tun, als würde auch ihr Bewusstsein beeinträchtigt werden, wenn etwas verschwindet.«

      »Ich glaube nicht …« R dachte einen Moment lang nach und fuhr dann fort: »Es ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Unser Bewusstsein ist schließlich in ein weitaus umfangreicheres Unbewusstes eingebettet. Deshalb ist es nicht leicht, etwas vorzutäuschen. Die Betroffenen können sich ja nicht ausmalen, wie sich das Verschwinden von Dingen auf ihr Gedächtnis auswirkt. Sonst würden sie wohl nicht untertauchen.«

      »Das ist richtig.«

      »Es ist zwar nur ein Gerücht, aber angeblich lässt sich durch das Entschlüsseln der Gene bestimmen, wer von Geburt an über einen besonderen Bewusstseinszustand verfügt. Sogenannte Gen-Ingenieure sollen heimlich in Universitätslaboren ausgebildet werden.«

      »Das Entschlüsseln von Genen?«

      »Genau. Rein äußerlich mag es bei Personen keine Identifikationsmerkmale geben, aber wenn man sie auf der genetischen Ebene analysiert, lassen sich Gemeinsamkeiten finden. Wenn man bedenkt, wie rücksichtslos die Erinnerungspolizei neuerdings vorgeht, müssen die Forschungen ziemlich fortgeschritten sein.«

      »Aber wie kommen die an unser Genmaterial?«, fragte ich.

      »Sie haben doch gerade aus der Tasse getrunken, nicht wahr?«

      R drückte seine Zigarette aus und hielt mir meine Tasse dicht vor die Nase. Seine Finger waren so nah, dass ich sie hätte anhauchen können. Aber ich kniff die Lippen zusammen und nickte.

      »Es ist so einfach. Man braucht nur eine Tasse, und schon kann man mithilfe einer Speichelanalyse Ihren Genabdruck ermitteln. Die Erinnerungspolizei ist überall. Sogar in der Teeküche hier im Verlag. Ehe man sichs versieht, haben sie die genetischen Profile aller Inselbewohner entschlüsselt und in Datenbanken gespeichert. Dabei lässt sich unmöglich abschätzen, wie viel sie bereits archiviert haben. Egal, wie sehr wir achtgeben, ständig hinterlassen wir irgendwelche Partikel von uns. Haare, Schweiß, Fingernägel, Tränen … all das kann getestet werden. Es lässt sich nicht verhindern.«

      Er stellte seine halb volle Tasse vorsichtig auf die Untertasse zurück und warf einen Blick hinein.

      Wir hatten nicht bemerkt, dass die Männer ihre Besprechung beendet und die Lobby verlassen hatten. Ihre drei Kaffeetassen standen noch auf dem Tisch. Die Empfangsdame räumte sie mit ausdrucksloser Miene ab.

      Ich wartete, bis sie außer Sichtweite war.

      »Aber warum verhaften sie diese Leute? Sie haben sich doch nichts zuschulden kommen lassen …«

      »Anscheinend soll auf dieser Insel alles nach und nach verschwinden. Insofern ist das, was bestehen bleibt, unangemessen und irrational.«

      »Glauben Sie, meine Mutter wurde umgebracht?«

      Dieser Satz war mir unversehens herausgerutscht. Ich wusste, es war sinnlos, R danach zu fragen.

      »Auf jeden Fall wird man sie verhört und medizinisch untersucht haben.«

      R wählte seine Worte mit Bedacht.

      Wir verstummten. Nur das Plätschern des Brunnens drang an meine Ohren. Zwischen uns lag unangetastet der zerknitterte Umschlag.

      R nahm ihn und zog das Manuskript heraus.

      »Es ist schon merkwürdig, dass wir auf einer Insel, wo früher oder später alles verschwinden soll, mit Worten etwas erschaffen können.«

      Fast zärtlich strich er den Schmutz von den Blättern.

      Es kam mir vor, als wären in diesem Moment unsere Gedanken eins. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, konnte ich die Angst spüren, die sich vor langer Zeit in unseren Herzen eingenistet hat. In den Tropfen des Springbrunnens brach sich das Licht und fiel auf seine Gesichtszüge.

      Ich fragte mich, was wäre, wenn eines Tages die Wörter verschwinden würden. Aber nur im Stillen. Weil etwas wahr werden kann, sobald man es laut ausspricht.

      5

      Der Herbst ging schnell vorüber. Die Wellen brandeten kalt und unnachgiebig gegen die Küste, und von den Bergen her wehte ein schneidender Wind, der Winterwolken vor sich hertrieb.

      Der alte Mann stattete mir einen Besuch ab, um mir bei den Wintervorbereitungen behilflich zu sein. Wir brachten die Heizung in Gang, dämmten Wasserrohre ab und rechten das Laub im Garten zusammen.

      »Diesen Winter soll es nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder schneien«, sagte der Alte, während er im Lagerraum, der auf den Hinterhof hinausging, an der Decke Zwiebeln aufhängte.

      »Es schneit nämlich immer dann, wenn die Schalen der im Sommer geernteten Zwiebeln diesen schönen Bernsteinton haben und zart wie Schmetterlingsflügel sind.«

      Er zog eine Schicht der Zwiebelhaut ab und zerrieb sie zwischen den Fingern, was angenehm knisterte.

      »Es wäre erst das dritte Mal in meinem Leben. Das würde mich sehr freuen. Wie viele weiße Winter haben Sie schon erlebt?«

      »Ich habe nie gezählt. Als ich mit der Fähre auf dem Nordmeer gefahren bin, hatte ich von dem endlosen Schneegestöber schnell die Nase voll. Aber das war lange, lange vor Ihrer Geburt«, erwiderte der Alte und machte sich wieder daran, die Zwiebelbunde aufzuhängen.

      Als wir mit den Vorbereitungen fertig waren, machten wir im Ofen Feuer und aßen in der Küche Waffeln. Der frisch gereinigte Ofen zog nicht sogleich und bullerte laut vor sich hin. Draußen am Himmel hinterließ ein Flugzeug einen Kondensstreifen. Im Garten schlängelte sich aus der Asche des verbrannten Laubhaufens eine zarte Rauchsäule empor.

      »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Wenn der Winter naht, macht es mir immer ein wenig Angst, auf mich allein gestellt zu sein. Übrigens, ich habe Ihnen einen Pullover gestrickt. Probieren Sie doch mal, ob er passt.«

      Nachdem ich meine Waffel verspeist hatte, holte ich den grauen Wollpullover, der ein aufwendiges Strickmuster hatte, hervor und überreichte ihn dem alten Mann. Geräuschvoll schluckte er seinen Tee hinunter und nahm das Geschenk andächtig entgegen.

      »Ich freue mich, wenn ich helfen kann. Aber das ist nicht der Rede wert. So ein wertvolles Geschenk kann ich nicht annehmen …«

      Er legte seine schäbige Weste ab und verstaute sie, zusammengeknüllt wie ein gebrauchtes Handtuch, in seiner Tasche, bevor er vorsichtig in die Ärmel des Pullovers schlüpfte, als wäre er ein zartes Gespinst, das gleich auseinanderreißen würde.

      »Oh, er ist schön warm! Und so leicht, als könnte man damit durch die Luft schweben.«

      Die Ärmel waren ein wenig zu lang geraten und der Halsausschnitt war zu eng, aber der alte Mann scherte sich nicht darum. Er aß eine zweite Waffel und war so angetan von dem neuen Pullover, dass er es gar nicht merkte, als ein bisschen von der Cremefüllung an seinem Kinn hängen blieb.

      Nachdem er seine Utensilien – Zange, Schraubenzieher, Sandpapier, Ölkännchen – im Werkzeugkasten auf dem Gepäckträger seines Fahrrads verstaut hatte, radelte er zur Fähre zurück.

      Am nächsten Tag kam der erwartete Wintereinbruch. Ohne Mantel konnte man nicht mehr nach draußen gehen. In dem kleinen Fluss hinter dem Haus trieben Eisstücke, und auf dem Markt gab es viel weniger Auswahl an Gemüse.

      Ich blieb zu Hause und arbeitete an meinem vierten Roman. Die Hauptfigur war diesmal eine Stenotypistin, die ihre